Entlarvte Gemeinplätze

VORREDE

Ich beginne heute, am 30. September, unter der Anrufung des heiligen Hieronymus, Autors der Vulgata, Herolds aller Propheten, glorreichen Aufzeichners von Gemeinplätzen von ewiger Gültigkeit.

Verletze ich damit die Ehrfurcht gegenüber diesem erstaunlichen Lehrer, den die Kirche mit dem Titel Maximus ehrt und den das Trienter Konzil stillschweigend als den Notar des Heiligen Geistes anerkannt hat? Ich glaube nicht.

Geht es denn um etwas anderes, als den Schwachköpfen das Reden zu verleiden, den schauerlichen, unbelehrbaren Idioten dieses Jahrhunderts, so wie der heilige Hieronymus die Pe-lagianer und Luziferianer seiner Zeit zum Schweigen brachte?

Erreichen, daß der Bürger verstummt, welch ein Traum!

Das Unternehmen, ich weiß es wohl, scheint wahnwitzig. Doch ich verzweifle nicht, es als leicht, ja selbst bequem durchführbar zu erweisen.

Der richtige Bürger, das heißt im zeitgemäßen und weitesten Sinn verstanden, der Mensch, der es grundsätzlich ablehnt zu denken, der lebt oder zu leben scheint, ohne jemals den Trieb verspürt zu haben, etwas, gleichviel was, zu begreifen, der wahre, unverfälschte Bürger, spricht eine Sprache, die sich notwendig auf eine sehr geringe Anzahl von Formeln beschränkt.

Der Vorrat überkommener Redensarten, mit dem er sein Auslangen findet, ist knapp und geht über einige hundert kaum hinaus. Gelänge es, ihn dieses kärglichen Schatzes zu rauben, Paradiesesstille senkte sich herab auf den aufatmenden Erdkreis!

Wie, wenn man dem Kanzleigehilfen oder dem Tuchfabrikanten, der etwa bemerkt, es sei nicht alles Gold, was glänzt; man könne nicht alles haben; Geschäft sei Geschäft; man müsse mit den Wölfen heulen; Rom sei nicht an einem Tag erbaut worden; Reden sei Silber, Schweigen Gold usw.; wie, wenn man ihnen auf der Stelle bewiese, daß einigen dieser jahrhundertealten Formeln göttliche Wirkkraft innewohnt, daß sie Welten bewegen und Katastrophen ohne Gnade entfesseln können?

Welcher Schrecken für den Gastwirt oder den Kurzwarenhändler, welches Entsetzen für den Apotheker und den Inspektor, wenn sie plötzlich entdecken, daß sie ahnungslos Ungeheures aussprechen; daß das Wort, das sie soeben unge-gezählten Millionen Hirnloser nachgeplappert haben, in Wahrheit Raub ist an der schöpferischen Allmacht, daß es zur gegebenen Stunde eine Welt zu erwecken vermag!

Sie scheinen es übrigens instinktiv zu fühlen. Weshalb sonst die verschmitzte Vorsicht, die ernste Diskretion dieser wackerer! Leute, wenn sie die modrigen Sentenzen aussprechen, die ihnen die Jahrhunderte überliefert haben und die sie ihren Kindern weitergeben?

Wenn die Hebamme bemerkt, daß Geld nicht glücklich mache, und der Kaidaunenhändler mit Schläue einwendet, daß es aber doch zum Glück beitrage, dann haben diese beiden Auguren das untrügliche Gefühl, kostbare Geheimnisse auszutauschen, Arkana des ewigen Lebens voreinander zu enthüllen, und ihr Gehaben ist der Bedeutung des Anlasses angemessen.

Es ist nicht allzu schwer, zu sagen, was ein Gemeinplatz dem Anschein nach ist. Was er aber wirklich ist, wer vermag das zu sagen?

Warum hätte ich sonst den heiligen Hieronymus angerufen? Dieser gewaltige Mann war ja nicht nur der endgültige Empfänger und Verwahrer des Wortes, das wandellos ist, der schreckenumwitterten Gemeinplätze der Allerheiligsten Dreifaltigkeit. Er war vor allem ihr Interpret, ihr erleuchteter Erklärer.

Mit einer Vollmacht, weit über alles Menschliche, lehrte er, daß Gott immer und ausschließlich von sich gesprochen in den Symbolen, Parabeln und Gleichnissen der Offenbarung durch die Schrift und daß er in tausend Bildern immer das gleiche gesagt hat.

Ich hoffe, der große Heilige wird seinen Beistand einem Pamphletisten guten Willens nicht versagen, der so glücklich wäre, gelänge es ihm noch einmal, das Mißfallen des Volkes von Ninive zu erregen, das ewig „nicht weiß, was rechts und was links ist” — sein Mißfallen zu erregen in einem Grade, daß es in Wutausbrüche von bisher unbekannter Heftigkeit verfällt.

Dieser Erfolg aber würde zweifellos eintreten, gewährte mir die Gnade des Himmels, mit unwiderlegbaren Argumenten einer ehernen Dialektik den Beweis zu führen, daß der läppischste Bürger ahnungslos der Träger furchtbarer Prophetien ist, daß er den Mund nicht auftun kann, ohne an den Sternen zu rütteln, und die Urgründe des Lichts sich öffnen vor den Abgründen seiner Dummheit.

ARMUT IST KEINE SCHANDE

Natürlich ist das Gegenteil gemeint. Was, wertgeschätzter Herr Besitzer, soll denn Schande oder Verbrechen sein, wenn nicht die Armut?

Ich glaube, ich habe es anderwärts schon gesagt: Armut ist die Schande, die Sünde an sich, der untilgbare Makel, der unverzeihliche Frevel. Dafür haltet ihr sie doch, vornehme Lumpen, die ihr die Welt richtet?

Noch einmal denn: Armut ist so schimpflich, daß nur äußerster Zynismus oder ein verzweifelndes Gewissen in einem letzten Aufschrei sich zu ihr bekennt: es gibt für sie keine Sühne.

Reich sein ist so sehr Pflicht des Menschen, daß das Dasein auch nur eines einzigen Armen zum Himmel schreit wie die Greuel Sodoms, Gott selber entblößend, so daß er gezwungen ist, Fleisch zu werden und zum Ärgernis auf Erden umherzuwandern, nur bekleidet mit der Bettlerhülle seiner Prophetien.

Not ist Entweihung, ist furchtbarer und unsäglicher Frevel, davor die Sterne erbleichen und das Wörterbuch sich schließt.

Wie schlecht wird das Evangelium verstanden! Liest man, daß euer ein Kamel durch ein Nadelöhr geht als ein Reicher in den Himmel, so muß man ja blind sein, um nicht zu sehen, daß damit nur das Kamel ausgeschlossen wird, denn die Reichen sitzen ganz gewiß ausnahmslos auf goldenen Stühlen im

Paradies, und es ist ihnen daher faktisch unmöglich, an einen Ort zu gelangen, an dem sie seit jeher waren! Die Kamele vor dem Tor mögen zusehen, sich durch die Nadeln zu fädeln und mit ihrer Aufgabe fertig zu werden. Das soll unsere Sorge nicht sein.

Besser als jeder andere bezeugt dieser Gemeinplatz die sublime Scham des Bürgers. Mit dem göttlichen Lächeln eines Arenasäuberers wirft er einen Schleier über das greulichste Geschwür am Leibe der Menschheit.

MAN MUSS ESSEN, UM ZU LEBEN

„Ich will essen, nichts weiter”, sagt ein armer Teufel; „mein Leben ist nicht angenehm, doch etwas zwischen die Zähne brauche auch ich. Alle Hunde fressen und leben. Die, die nicht das Glück haben, von einem Herrn ernährt zu werden, sättigen sich mit Abfall, der ihnen wohlbekommt, da sie eben Hunde sind. Mir bekommt er nicht. Mein Unglück ist: Ich bin ein Mensch mit der Bestimmung, aufrecht zu gehen und mit dauernd gen Himmel gewendeter Stirne. Mir fehlt die Spürnase, und Aas widersteht meinem Magen …

Ich habe sagen gehört, daß es einst Fleisch gab für die Armen und daß die Hungernden Gott verzehren konnten, um ewiges Leben zu haben. In längst vergangenen Zeiten schleppte man sich, Tränen des Paradieses vergießend, von der Beichtkapelle zur Märtyrerkrypta, vom wundertätigen Heiligtum zur berühmten Basilika auf Straßen voll von Pilgern, die bettelten um den Leib des Heilands. Dies war

für ein paar Auserwählte die einzige Speise, die Schwäche dieser Auserwählten aber hatte die Kraft, jede Schwäche zu heilen, ja sie vermochte zuweilen selbst Tote zu erwecken. All das ist lange her, furchtbar lange her …

Heute hat sich an die Stelle Jesu der Bürger gedrängt, vor seinem Leib aber ekelte selbst den Säuen!

OHNE GELD KANN MAN NICHT LEBEN

Un-be-streitbar. Wenn es einem fehlt, ist man sogar gezwungen, es andern wegzunehmen. Man braucht dabei keineswegs mit den Gesetzen in Konflikt zu kommen.

„Ich zwinge niemand”, bemerkt leutselig der Geldverleiher zu hundertfünfzig Prozent, „aber ich habe Risikos, und das Geld muß arbeiten” Ohne Geld zu leben ist für diesen Gerechten so unvorstellbar, wie für einen Eremiten der The-bais, ohne Gott zu leben. Und diese beiden Lebendigen haben recht; ihr Objekt ist das gleiche, durchaus das gleiche.

Daß man nicht leben kann, ohne zu essen, wurde schon dargelegt, es ist daher fast müßig, die Lebensnotwendigkeit des Geldes nachzuweisen. „Es verschlingt Geld!” ächzen im geheimen die Familienväter. Eine ungemein erhellende Redewendung!

Aber was soll man denn verschlingen, wollen Sie mir das nicht sagen, wenn nicht Geld? Gibt’s denn sonst etwas Verschlingbares auf der Welt?

Liegt es nicht klar am Tage, daß das Geld eben jener Gott ist, der will, daß man ihn verzehre, der einzige Spender des Lebens, das lebendige Brot, das Brot des Heils, der Weizen der Auserwählten, die Speise der Engel, zugleich aber auch das verborgene Manna, das die Armen vergeblich suchen?

Es ist wahr, daß der fast alles wissende Bürger in dieses Mysterium nicht eindringt. Es ist auch wahr, daß ihm der Sinn des Wortes „leben” nicht klar ist, da das Geld, ohne das man nach seiner großmütigen Behauptung nicht leben kann, für ihn dennoch eine Frage von Leben und Tod ist …

Gleichviel, er besitzt es, das ist das Wesentliche. Verschlingt er es nicht selber, so werden es andere tun.

Aber er hüte sich, beim Aussprechen dieser schrecklichen Worte nicht in Wahrheit zum Propheten zu werden und zum Zeugen der Allmacht Gottes. Trahitur sapientia de occultis.

DAS GELD ARBEITEN LASSEN

Dieser Gemeinplatz gehört, wie gezeigt wurde, zum vorigen wie die Biene zur Blüte. Die wiederholte Anweisung, das Geld arbeiten zu lassen, ist im Grunde weit mehr theologischer denn ökonomischer Natur, kraft der vorhin festgestellten Identität.

Arbeiten im Sinn des lateinischen laborare heißt leiden. Daher läßt man das Geld, das Gott ist, leiden. Natürlich auf das allerschmachvollste. Das Anspucken ausgenommen — denn der Bürger „spuckt nicht aufs Geld” —, bleibt ihm kein Schimpf erspart. Man preßt alles aus ihm heraus. Man preßt das Blut der Armen aus ihm heraus durch die Tortur todbringender Arbeiten.

Völker gehen zugrunde in Fabriken und lichtlosen Katakomben, damit verfeinerte Kapitalisten ihre Töchter betten können auf Samt und Seide und diese Muße haben für „das geheimnisvolle Lächeln der Gioconda”. Das heißt: das Geld arbeiten lassen!

… Und bleicher noch ist das bleiche Antlitz Christi auf dem Grund der Schächte und vor glühenden Schmelzöfen.

GESCHÄFT IST GESCHÄFT

Gemeinplätze sind gewöhnlich streng und autoritär, der vorliegende aber ist, denke ich, der gewichtigste und erhabenste von allen. Er ist gleichsam der Nabel der Gemeinplätze, er ist das Losungswort des Jahrhunderts. Freilich setzt er Verständnis voraus, das nicht jedermanns Sache ist. Dichter etwa oder Künstler begreifen ihn schlecht. Helden, ein altmodischer Ausdruck, oder gar Heilige begreifen ihn überhaupt nicht.

Das Heilsgeschäft, Geschäfte, die mit Dingen des Geistes und der Ehre zu tun haben, Staats-und Amtsgeschäfte sind Geschäfte, die auch etwas anderes sein könnten, sind nicht Geschäft, das nur Geschäft ist ohne Attribut oder schmückendes Beiwort.

Wer im Geschäft ist, ist im Absoluten. Der perfekte Geschäftsmann ist ein Eremit auf einer Säule, der niemals von seiner Höhe herabsteigt. Er darf keine Gedanken, Gefühle, Augen, Ohren, keine Nase, keinen Geschmack, keine Einsicht und Neigung haben als für das Geschäft. Der Geschäftsmann ist nicht Vater und Mutter, nicht Onkel und Tante, nicht Frau und Kinder, nicht Schön und Häßlich, nicht Sauber und Schmutzig, Heiß und Kalt, nicht Gott oder Dämon. Er weiß nichts von Literatur, Kunst und Wissenschaft, Geschichte und Gesetz. Er kennt und schätzt nur eines: das Geschäft.

„Ihr habt in Paris Notre Dame und das Museum im Louvre. Möglich. Wir aber, in Chicago, schlachten täglich vierundzwanzigtausend Schweine …!” Wer so spricht, ist wahrhaftig ein Geschäftsmann. Noch mehr Geschäftsmann aber ist, wer all dies Schweinefleisch verkauft, und dieser Verkäufer wiederum wird in Schatten gestellt durch den abgefeimten Käufer, der damit alle europäischen Märkte verpestet.

Eine strenge Begriffsbestimmung des Geschäfts läßt sich nicht durchführen. Es ist die geheimnisvolle Gottheit, gleichsam die Isis der Bullen, die alle anderen Gottheiten verdrängt hat. Man hat ihren Schleier nicht gehoben, wenn man hier oder anderswo von Geld, Spiel, Ehrgeiz usw. spräche. Geschäft ist Geschäft, wie Gott Gott ist, das heißt außer und über allem. Das Geschäft ist das Unerklärbare, das Unbeweisbare, das Unbestimmbare in einem Grad, daß es genügt, diesen Gemeinplatz auszusprechen, um jeden Widerspruch zum Schweigen zu bringen; der Tadel verstummt ebenso wie die Zornausbrüche, die Klagen und Bitten, die Entrüstung und Vorwürfe. Wer diese fünf Silben ausgesprochen hat, hat alles gesagt und alles beantwortet, weitere Enthüllungen sind von ihm nicht zu erwarten.

Wer ganz in dies Arkanum einzudringen sucht, wird zuletzt zu einer aller Eigensucht baren, mystischen Betrachtung gelangen, und die Zeit ist zweifellos nicht fern, wo der Mensch, angewidert von den Eitelkeiten und Genüssen der Welt, sich zurückzieht in die Einsamkeit, um sich einzig und allein dem Geschäft zu weihen.

ICH HABE DAS GESETZ AUF MEINER SEITE

Es war eine christliche Familie nach der alten Art. Der Vater, ein trefflicher Arbeiter und braver Mann, brachte pünktlich seinen ganzen Lohn nach Hause. Die Mutter, nicht minder tüchtig, schaffte im Haushalt. Das älteste der Kinder, ein hübscher Junge von vierzehn Jahren, hatte eben seine Lehrzeit begonnen, während die zwei kleinen Mädchen, von denen das ältere sich auf die erste Kommunion vorbereitete, bei den Nonnen in die Schule gingen. Es waren schlichte Leute ohne Arg, die es den Heiligen gleichtun wollten. Kein Stecknadelkopf hätte zwischen ihren guten Vorsätzen zu Boden fallen können.

Man betete morgens und abends gemeinsam, ging sonn-und feiertags selbander zum Gottesdienst und während der Woche so oft als möglich in eine Frühmesse. Man las häufig die Geschichte der Märtyrer oder irgendein anderes jener seltenen Bücher, die Leben spenden. Ein paar religiöse Bilder, scheußlich und herzergreifend zugleich, hingen an den Stubenwänden, eine lithographierte Madonna, ein barbarisch illuminierter Ecce homo von Guido Reni, eine zahme Gol-gathadarstellung und eine Heilige Familie, wie sie auf den Jahrmärkten verkauft wird.

Doch das höchstverehrte Bildnis war ein schauderhaftes Konterfei Leos XIII. In dieser schrecklichen Karikatur ver-sinnbildeten die Armen sich die Gegenwart, wenn schon nicht des Gottessohnes selber, so doch die seines irdischen Stellvertreters. Ständig brannte eine rosa Ampel vor dem Bild, und es bestand die Regel, nicht davor vorüberzugehen, ohne ein Gebet zu sprechen.

Frömmere Christen konnte man sich nicht vorstellen. Der Papst war für sie der Vater schlechthin. Sie hätten alles geopfert, um dem Oberhaupt der Christenheit die geringste Sorge, den mindesten Harm zu ersparen.

Da brach das Unheil über sie herein, und man überließ sie dem Verderben, als wären sie Verfluchte. Der Vater verunglückte an einer Walzmaschine. Der Verwalter des unbekannten Hausherrn veranlaßte die Räumung der Wohnung, nicht ohne den gesamten Hausrat zu pfänden, einschließlich des famosen Bildnisses des Nachfolgers Petri. Die Mutter starb an Gram und Entbehrung. Der Junge endlich war vier Jahre später zum Richter seines Jahrhunderts und zum Zuhälter seiner Schwestern geworden.

Er wußte nun, daß der Hausherr, der durch die gesetzliche Delogierung den Untergang der Familie besiegelt hatte, ein Ausländer namens Pecci war und daß er den Römischen Stuhl innehatte sowie den von Antiochia, der in den Händen der Ungläubigen ist, und wo die Jünger Jesu zum erstenmal Christen geheißen wurden.

Ja, Heiliger Vater, Ihr habt das Gesetz auf Eurer Seite.

Nachschrift. Kein Gesetz, auch kein gottfeindliches, kann mich nötigen, den Schwachen Ärgernis zu geben; es sei daher, ein für allemal, festgestellt, daß ich vorzugsweise Parabeln erzähle, wie es hier der Fall ist. Ich vermag natürlich kein einziges Haus zu nennen, das Leo XIII. gehört, könnte aber sämtliche Pfarrkirchen Frankreichs hier erwähnen, die ein Innozenz III. oder ein Gregor IX. längst mit dem Großen Interdikt belegt hätte, um der einen monströsen Tatsache willen, die den Stellvertreter des Gottes der Armen furchtbar bloßstellt, daß nämlich die Barfüßigen und Elenden ausnahmslos und schimpflich aus diesen Andachtsorten gewiesen werden.

MAN KANN NICHT ALLES HABEN

Richtig; zumal man ja schon das Gesetz auf seiner Seite hat, wie soeben gezeigt wurde. Darüber hinaus auch noch den Rest fordern hieße das Weltall verschlingen wollen. So ist der Bürger nicht. Verächter des Unendlichen und des Absoluten, weiß er sich zu beschränken. Wer wüßte es besser als er? Von Kind auf sorgt und arbeitet er einzig für die Errichtung von Schranken allenthalben.

Und man beachte die Mäßigung dieses Gemeinplatzes. Es heißt nicht: man soll nicht, sondern: man kann nicht. Der Bürger sollte natürlich alles haben, da ihm ja alles gehört, doch kann er nicht alles packen und festhalten, seine Arme sind zu kurz. „Es ist das Elend eines großen Herrn”, sagt Pascal, „das Elend eines entthronten Königs.”

Wenn mir mein Krämer einen abschlägigen Bescheid gibt und mit biederem Lächeln meint, man könne nicht alles haben, glaubt der Wackere vielleicht nur einen artikulierten Rülpser getan zu haben. Ich aber glaube die ungeheure Klage des Prometheus zu hören …

Nicht alles haben! Welches Verhängnis! Ich frage mich nur, wie dies Wort, diese gleichsam übernatürliche Beschwerde, die von Millionen Mäulern ohne Unterlaß zu den Gestirnen empordringt, nicht die Gewölbe des Himmels zum Bersten bringt!

ES KÖNNEN NICHT ALLE REICH SEIN

Scheint zunächst weniger absolut als der vorige, hat aber den Vorzug größerer Präzision. Im Grunde sind beide vollkommen identisch. Es lag daher nahe, sie nebeneinanderzustellen, sie zusammenzubringen, um zu zeigen, daß sie beide die gleichen Gefühle, die gleichen Gedanken wecken.

Denn hier muß es endlich gesagt werden, die Sprache der Gemeinplätze, die erstaunlichste aller Sprachen, hat, wie die der Propheten, die wunderbare Eigenschaft, immer dasselbe zu sagen. Da der Bürger, dessen Privileg sie ist, nur über einen ungemein bescheidenen Ideenvorrat verfügt, wie es sich schickt für einen Weisen, der mit einem Mindestmaß geistiger Tätigkeit auslangt, begegnet er diesen wenigen Ideen notwendig auf Schritt und Tritt. Wer dies nicht zu schätzen versteht, tut mir leid. Sagt etwa eine Bürgersfrau: „Ich lebe nicht in den Wolken”, so darf man überzeugt sein, daß sie damit alles sagen will, alles sagt und gesagt hat, endgültig und für immer.

Die sechs Worte: „Es können nicht alle reich sein” sehen nach nichts aus, wie? Sind auch in Wirklichkeit nichts, aber man versuche doch, sie zu ersetzen! Man versuche eine neue Formulierung des tiefsinnigen Satzes, daß nicht alle Leute mit vollen Geldbörsen herumlaufen können, das heißt dem Bürgerstand angehören, der, wie wir wissen, nicht alles haben kann, jedenfalls aber Geld hat. Man versuche, diesen Gemeinplatz außer Kurs zu setzen durch eine neue unerhörte Wortprägung. Oh, man wird lange suchen, graben, wühlen und das Unterste zu oberst kehren. Wird etwa auf die Ilias stoßen, doch nicht auf das Gesuchte. Tränen der Bewunderung treten einem in die Augen.

SICH DIE HÄNDE WASCHEN WIE PILATUS

Eine Reminiszenz aus dem Evangelium. Es werden uns noch weitere begegnen. Der Bürger ist nicht eigentlich religiös; gewiß nicht, doch finden sich bei ihm Spuren von allem möglichen, wie auf einem vielbenutzten Kotabstreifer oder einem alten Strohsack. Nichts fällt ihm leichter, als sich bald über dieser oder jener Sache die Hände zu waschen wie Pilatus.

Überhaupt ist Pilatus der Mann seiner Wahl. Derjenige, der von allen Gestalten des Evangeliums am meisten nach seinem Herzen redet. Er ahnt in ihm sein Ur-und Vorbild! Nicht daß er in dieser Geschichte so recht Bescheid weiß, wahrscheinlich sind ihm die näheren Umstände dieser berühmten Waschung gar nicht vertraut. Er hat Wichtigeres zu tun, immerhin …

Vielleicht haben seine Ahnen, die längst wieder zu Staub gewordenen Bürger früherer Zeiten, gewußt, daß diese Waschung metaphorisch als Zeichen der Schuldlosigkeit gemeint war. Der moderne Bürger, immun gegen jeden Gedanken, hat den Sinn dieses Ausspruchs scharfsinnig erweitert. „Ich wasche mir die Hände darüber”, gleichviel worüber, bedeutet nun nichts weiter als einfach: „Es ist mir egal”, und die Ergänzung „wie Pilatus” ist nichts als eine jahrhundertealte Sprachgewohnheit, eine Art dumpfes Geräusch, wie es ein schwerer Körper verursacht, der in einen Abgrund stürzt.

Streng und absolut genommen, entspricht dieser Gemeinplatz der Antwort Kains: „Bin ich der Hüter meines Bruders?” — Wahrlich, der Bürger kann kein Wort sprechen, ohne wie Samson an den Säulen zu rütteln!

Aber ich fange an, den Kopf zu verlieren. Ich habe soeben

vom Absoluten geredet und vergessen, daß es das nach Ansicht des Bürgers gar nicht gibt. Ich fürchte manchmal, mit dieser ungeheuren exegetischen Arbeit an kein Ende zu kommen, der Stoff bedrückt mich, das Thema macht mich stumpfsinnig.

Nachschrift. Es fiel mir auf, daß dieser Gemeinplatz gewöhnlich von Leuten geäußert wird, die schmutzige Hände haben. Seltsam.

IN DER WÜSTE PREDIGEN WIE JOHANNES

Noch einmal das Evangelium! Was für eine Monographie ließe sich schreiben über die in den Eingeweiden des Bürgers unverdaut festsitzenden Residuen des Evangeliums! Die Schwierigkeit ist hier nicht gering, und ich muß mich von neuem beklagen.

Lieber Gott, ich weiß wohl, was der Mathematikprofessor, der Straßenhändler oder das Mitglied der Akademie sagen wollen, wenn sie behaupten, sie predigten in der Wüste … wie Johannes der Täufer. Ja ich weiß, was sie damit sagen wollen, wüßte es doch ein dreijähriges Kind. Ich verstehe nur nicht, was sie wirklich sagen. Ich verstehe es fast ebensowenig wie sie selber.

Sonderbar. Was bedeutet das Wort „predigen” für diese Leute, und was verstehen sie unter „Wüste”? Und gar den heiligen Johannes selber wollen wir lieber ganz aus dem Spiel lassen. Lese ich im Evangelium, daß „Johannes der Täufer in der Wüste von Judäa predigte”, so brauche ich nur das Kapitel zu Ende lesen und weiß, daß von überall her eine Unmenge Menschen in diese Wüste wanderte, um ihn zu hören, daß eine große Zahl sich von ihm taufen und unter seine Jünger aufnehmen ließ und er daher keineswegs vergeblich predigte. Es geschah also genau das Gegenteil von dem, was die oben erwähnten Repräsentanten des Bürgertums zu verstehen geben wollten.

Was nun? Verbirgt sich hinter dieser handgreiflichen Kon-fusion — bloße Dummheit darf ja hier nicht vermutet werden — nicht etwa ein tiefes Geheimnis? Wurde diesen Männern ich weiß nicht welche unerhörte Offenbarung zuteil, die den Text der Heiligen Schrift ungültig machte? Ich gestehe, daß mir dieser Gedanke Schrecken einflößt, und aus der Tiefe meines Elends, meiner schmachvollen Existenz als armer Schriftsteller, danke ich Gott, daß er mich nicht als Bürger hat geboren werden lassen, Ruhm und Bürde einer so schweren Aufgabe zu tragen.

IN DEN WOLKEN SCHWEBEN

Anderes lieben als Schmutz, Gestank und Blödsinn; nach der Schönheit, dem Glanz und dem Guten trachten; ein Kunstwerk einer Zote vorziehen und Michelangelos Jüngstes Gericht einer Jahresbilanz; mehr auf die Sättigung der Seele als die des Bauches bedacht sein; oder ganz an Poesie, Heldentum und Heiligkeit glauben: das nennt der Bürger „in den Wolken schweben”. Die Wolken scheinen demnach eine Art schwebende Heimat zu sein für jeden, der nicht gerade auf

der alleruntersten Sprosse der Leiter steht — wo natürlich keiner steht. Allerdings gibt es eine Hierarchie der Wolken, die endlos ist, und das hat der Feind des Menschengeschlechtes sorgfältig verborgen.

Die Beweisführung ist ebenso leicht wie einleuchtend. Der arme Tagwerker, der beim Säubern einer Latrinengrube an blühende Apfel-oder Akazienbäume denkt, schwebt unstreitig in den Wolken. Der trübsinnige Handelsangestellte, der seine Kontobücher wegschiebt, um ein Feuilleton zu verschlingen und dabei atemberaubende Literatur erlebt, ist, wenn möglich, noch mehr in den Wolken. Der liebestrunkene Notar, der seiner Notarin ein viertes Kind macht, vergessend, daß er bereits einen Wasserkopf und zwei Mißgeburten gezeugt hat, ist sicherlich so hoch in den Wolken, als man nur sein kann, und einzig die Ungeheuerlichkeit eines Verse machenden Apothekers beunruhigt noch stärker.

Kurzum, es genügt, um augenblicklich in den Wolken zu schweben, das Rechte oder scheinbar Rechte zu tun, zu denken oder zu erträumen, sei es auch nur einen halben Augenblick lang.

Daher begegnen dem Bürger diese von ihm mit Acht und Bann belegten famosen Wolken leider auf Schritt und Tritt. Er kann tun, was er will, er ist niemals sicher vor einer solchen Begegnung und sein Dasein folglich leidvoll und nicht beneidenswert. Man hat sich oft gefragt, warum der Bürger so viel vom Schwein hat, so voll Niedertracht ist, so tief in den Latrinen steckt. Schuld sind einzig und allein die Wolken.

Ein Wucherer war soeben verendet. Seine Familie bat den heiligen Antonius von Padua, die Grabrede zu halten. Der sagte zu und hielt einen völlig in den Wolken schwebenden Sermon über den Text: „Wo deine Schätze sind, ist auch dem Herz”. Nach beendeter Predigt aber wandte er sich den Angehörigen zu:

„Und nun geht”, sagte er zu ihnen, „und durchsucht die Schränke des Verstorbenen. Ich sage euch, was ihr in den Gold-und Silberhaufen finden werdet: ihr werdet sein Herz linden.”

Sie taten nach seinem Geheiß und fanden wirklich unter den Geldstücken ein Herz, ein noch heißes, zuckendes Menschenherz … Das war vermutlich aus den Wolken gefallen.

Wie ärgerlich und empörend muß der Bürger die Himmel-fahrt Christi finden! Ein Gott in den Wolken! … Doch gibt es einen besseren Christen als den Bürger? Bei allen Wohltätigkeitsveranstaltungen in unseren Pfarren marschiert er in der Spitze, und schlau wie er ist, weiß er sich auch mit der Ewigkeit abzufinden.

PRAKTISCH

Nach der Definition in den Wörterbüchern handelt es sich hier um nichts weiter als um den Gegensatz zum sogenannten Theoretischen, übrigens eine nicht minder schätzenswerte Sache.

Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, erscheint der praktische Mensch als das Werkzeug zur Verwirklichung einer Idee oder zur Anwendung eines Gesetzes. Der praktische Mensch im höchsten Sinne wäre demnach der Henker. Doch dies nebenbei.

In der Sprache des Bürgers, einer Spezialsprache, die man nie genug bewundern kann, bezeichnet das Wort „praktisch” eine psychische Ganzheit, einen Geisteszustand. Man sagt von einem Menschen, er sei praktisch, wie man von ihm sagt, er sei tugendhaft, vielleicht spricht man hierbei sogar etwas abschätzig von der Tugend.

Im Grunde ist der praktische Mensch der eigentliche Halbgott der bürgerlichen Welt, der moderne Ersatz für den Heiligen. Die meisten zeitgenössischen Denkmäler werden zu Ehren praktischer Menschen von anderen praktischen Menschen errichtet, die ihr Handwerk verstehen und keine Schlafmützen sind.

Ein Hausherr, der mitten im Winter die Kranken und Hungernden auf die Straße werfen läßt, ist ein durch und durch praktischer Mensch, er ist es um so mehr, wenn er Millionär ist, und je mehr Millionen er hat, um so praktischer ist er. Was diesen Mann so hoch hebt, ist, daß er ein Herz hat, manchmal sogar ein überaus gefühlvolles Herz, und daß er sich Zwang antun muß, um nichts davon merken zu lassen. Es gibt Aaslieferanten für die Spitäler und Milchhändler, die Jahr für Jahr Hunderte Kinder vergiften und dabei viel Geld verdienen. Und, wohlgemerkt, das sind alles Leute, die Herz haben und von Liebe triefen. Sie sind nur Opfer des Prinzips, daß man praktisch sein muß.

Eine Regel, die ohne Ausnahme gilt: Niemals ist ein Heiliger ein praktischer Mensch.

PRINZIPIENREITER

Line Art Reitkunst, die ausschließlich dem Bürger vorbehalten ist. Sie ist garantiert sicher. Nie hat man gehört, daß der also Berittene aus dem Sattel geflogen ist. Handelt es sich doch um trefflich dressierte Prinzipien! Das Reittier hat außerdem noch den Vorzug, daß es nichts kostet, es sucht so-gar seinen Reiter!

Diese Prinzipien übertreffen Fahrrad und Auto bei weitem, sie sind schneller, zermalmender, man hat mehr Freude mit ihnen, sie sind endgültiger. Sie zermalmen nicht nur die Leiber der Wehrlosen, der Schwachen und Schuldlosen. Sie zermalmen vor allem auch deren Seelen.

Die Prinzipien, auf denen der Bürger reitet, sind die unübertrefflichen, nicht einholbaren Rennpferde des Todes, die er im Stall seines Herzens verwahrt hält.

MAN BRAUCHT NICHT PÄPSTLICHER ZU SEIN ALS DER PAPST

Auf den ersten Blick könnte man glauben, es sei ein Glück für den Papst, daß es Leute gibt, die päpstlicher sind als er, Mahner und Warner, die ihm ein Halt zurufen, wenn er zu weit geht, und das tut er doch immer, nicht wahr? Denn der Papst ist der Mensch, der unfehlbar irrt, und nur so darf die Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit verstanden werden. Zumindest versteht sie so der Bürger.

Weshalb sagt er dann, daß man nicht päpstlicher als der Papst zu sein brauche? Ohne Zweifel deshalb, weil es der Papst schon allzusehr ist. Die Sache ist nicht ganz klar.

Wenn der Papst immer irrt und kraft seiner Unfehlbarkeit der einzige ist, der immer irrt, ist es unmöglich, nicht päpstlicher zu sein als er. Gleichzeitig aber behauptet der Bürger, daß das nicht gilt, daß man nicht päpstlicher zu sein brauche, es also weniger sein soll, was, wie eben bewiesen wurde, unmöglich ist.

In diesem seltsamen Satz ändert der Papst wie das Meer bei den Gezeiten beständig sein Niveau. Kaum sehe ich mich unterhalb der Norm dieses Oberhirten, der gar nicht anders kann als irren, als er auf Grund dieses Umstandes sogleich unaufhaltsam wieder auf die unterste Stufe hinabsinkt. Noch einmal: Ich bitte um etwas mehr Klarheit.

ES GIBT WAHRHEITEN, DIE SICH NICHT GUT SAGEN LASSEN

Und noch mehr, die sich nicht gut anhören lassen. Man muß also eine Auswahl treffen, wozu die Einsicht von Engeln nötig wäre, und welcher Engel!

Eine Wahrheit, die ihren Künder oder Zeugen in Gefahr bringt, ist sicher keine, die sich gut sagen läßt. Zuerst Sicherheit, jedem das Seine, der Bürger ist kein Blutzeuge. Er ist auch kein Bekenner, kein zerknirschter, sich demütigender Büßer; die ihm unbequemen Wahrheiten nimmt er einfach nicht zur Kenntnis.

Ausgezeichnet. Aber nun kommt eine Schwierigkeit. Unterdrückt man die Wahrheiten, die zu sagen gefährlich, und die, die zu hören unbequem ist, was bleibt dann noch übrig? Ich mag suchen, wie ich will, ich sehe keine dritte Gruppe.

Machen wir uns doch nichts vor und erklären wir ohne Wimperzucken: Es gibt keine Wahrheit, die zu sagen gut ist, das ist der wahre Sinn. Vielleicht gibt es überhaupt keine Wahrheit. Pilatus, der ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, war ihrer nicht sicher.

MAN MUSS MIT DEN WÖLFEN HEULEN

Eine kostbare Maxime, die aus der Hinterlassenschaft eines alten Hundes stammen muß. Das Heulen ist, wie ich wohl kaum zu erläutern brauche, eine Litotes, ein mildernder bildlicher Ausdruck. Es handelt sich natürlich darum, zu tun, was die Wölfe tun, nämlich die Schafe zu fressen und, wohlgemerkt, mit denen anzufangen, die man zu hüten hat.

Im bürgerlichen Klerus herrscht Einmütigkeit, daß diese Praxis sehr empfehlenswert ist; Schaffleisch ist vorzüglich und sehr zuträglich für Hundemägen. Es findet sich zwar bei dem Propheten Ezechiel ein Kapitel, das ihnen Magenbesch werden anzudrohen scheint. Aber im bürgerlichen Klerus liest mam Ezechiel kaum, besonders selten in der Diözese von Meaux, wo man ihn, wie ich denke, etwas antiquiert finden durfte. Ich erwähne die Diözese von Meaux, weil ich da lebe — übrigens, da ich weder Schäfer noch Schäferhund Inn, ziemlich schlecht — und weil ich da Gelegenheit hatte, ein paar Pfarrherren zu beobachten, die von Bossuet nicht vorgesehen waren und keinesfalls jungen Adlern glichen.

Ich werde später von diesen Gottesdienern noch im Detail zu sprechen haben. Inzwischen schlage ich ihnen vor, sich der durchaus geistlichen Parabel vom Wachhund zu bedienen, der stumm geworden ist, da er zuviel mit den Wölfen geheult hat, und nun jeden Morgen das Fleisch und Blut des Lammes in aller Stille verschluckt.

NUR DIE WAHRHEIT WIRD ÜBEL AUFGENOMMEN

Nachtrag zu den Wahrheiten, die sich nicht gut sagen lassen. Den hätte ich beinahe vergessen. Nicht mit Recht? Es gibt nicht nur Wahrheiten, die nicht gut anzuhören sind, sondern, wie der Bürger tiefsinnig behauptet, ist es nur die Wahrheit, die übel aufgenommen wird.

Nicht die Lüge; die nimmt er niemals übel auf. Er betrachtet sie als eine Art Erbtante, von der ein Legat zu erhoffen ist und mit der man sich daher gut stellt. Würde die Lüge einmal Fleisch werden, was wohl eines Tages geschehen wird, so wird sie nur sagen müssen: „Verlasset alles und folget mir nach”, und es werden sich ihr nicht ein Dutzend armer Fischer, sondern Millionen Bürger und Bürgerinnen anschließen, um ihr zu folgen, wohin immer sie führen mag.

Bis jetzt ist allein die Wahrheit Fleisch geworden: Ego veritas qui loquor tecum, und wir wissen alle, welcher Empfang ihr bereitet wurde. Oh, nicht eine Minute hat man gezögert: Crucifigatur! Nur die Wahrheit wird übel aufgenommen!

Es hat aber doch etwas Beunruhigendes, den Bürger ruhig vom Morgen bis zum Abend derlei äußern zu hören.

MAN IST NICHT AUF DER WELT, UM SICH ZU UNTERHALTEN

Verzeihung, wozu denn? Vielleicht, um zu leiden?

Ja und nein, wir müssen uns nur verständigen. Das Wort des Bürgers ist zweischneidig wie das Schwert Ehuds, des Sohnes Geras, des dritten Richters in Israel. Das Leiden ist für die anderen, er allein ist auf der Welt, um sich zu unterhalten. Sobald man dies Gesetz aus den Augen verliert, wird alles dunkel.

Im Evangelium steht geschrieben, daß es immer Arme geben wird. Selbstverständlich. Soll sich etwa der Bürger der Mühe unterziehen, selber zu leiden? Es genügt ihm nicht, Lakaien zu haben, er braucht Sklaven, Unglückliche, deren Leiber er schinden, deren Seelen er schänden kann. Das ist seine Unterhaltung! Seelen zu entehren, zu beschmutzen und verzweifeln zu lassen … Schreit aber der Arme auf vor Schmerz, dann wird ihm als Trost gesagt: „Man ist nicht auf der Welt, um sich zu unterhalten”, und der Gequälte glaubt, umringt zu sein von Dämonen.

ICH BIN KEIN HEILIGER

Der Bürger wagt kaum zu sagen: „Ich bin kein Genie.” Wie wagt er zu sagen: „Ich bin kein Heiliger”? Beides gehört doch der Ordnung des Absoluten an, muß ihm also widerlich sein. Dennoch hat der Verdacht der Heiligkeit sicherlich etwas Schmerzlicheres für die Eigenliebe und läßt sich schwerer ertragen. Das Genie hat tatsächlich Aussichten, nicht unwiderruflich und endgültig den Idioten beigezählt zu werden; der Heilige nicht. Das ist bekannt.

In der dem Absoluten entfremdeten Sprache des Bürgers indessen muß man immer gefaßt sein auf Überraschungen, Widersprüche, Unsinn und Ungereimtheiten aller Art, bei denen er sich offenbar sehr wohlfühlt, der Außenstehende aber um seinen Verstand bangt. Ich selber muß bekennen, daß ich mich bei meinen Versuchen, etwas Licht in diese Unterwelt zu bringen, häufig darin verliere und am Ende, zum Schrecken meiner Freunde, eine Art Kollaps bekomme.

So etwa bei dem Versuch, den so ausdrücklichen, so bürgerlichen und verständigen Wunsch, kein Heiliger zu sein, mit der Forderung der Heiligkeit der anderen in Einklang zu bringen, besonders der Untergebenen, denn das ist die stille Voraussetzung dieses dem vorigen sehr ähnlichen Gemeinplatzes. Die Heiligkeit wie das Leiden ist für die anderen.

Doch alles ordnet sich aufs schönste. Da nun der Bürger kein Heiliger sein will und sein soll, müssen es andere an seiner Stelle sein, damit er seine Ruhe hat und in Frieden verdauen und rülpsen kann. Das ist die Religion, die für die unteren Stände bestimmt ist und die Voltaire so sehr angepriesen hat, deren Praxis darin besteht, seine Bürde dem Rücken der anderen aufzulasten.

Ich spreche hier, wie man sieht, nur vom Pseudobürger, s0zusagen vom einblätterigen Bürger, der „nichts gegen Gott hat” und nur an seine Kaidaunen denkt. Vom Spötter, der jeden religiösen Menschen für einen Heuchler hält und ihn durch diesen Verdacht meuchlings zu erledigen trachtet, wird noch die Rede sein.

In seinem berühmten Reisebuch über China erklärt E. R. Huc die Häufigkeit des Selbstmordes bei den Chinesen folgendermaßen:

„Will man sich”, sagt er, „in einem andern Land an einem Feind rächen, so sucht man ihn zu töten; in China jedoch ist es umgekehrt, man tötet sich selber. Man stürzt nämlich dadurch seinen Gegner in das furchtbarste Unheil. Er gerät unverzüglich in die Hände der Justiz, wird gefoltert und verliert, wenn nicht das Leben, zumindest das Vermögen. Die Familie des Selbstmörders erhält in diesen Fällen gewöhnlich eine Entschädigung von beträchtlicher Höhe; es kommt daher nicht selten vor, daß sich Unglückliche stoisch bei reichen Leuten töten, um ihrer Familie zu einem besseren Leben zu verhelfen.”

Diese seltsame Stelle kam mir in den Sinn, als ich über meinen Bürger nachdachte. Vom streng religiösen Standpunkt unterscheidet sich die Ablehnung und Verachtung der Heiligkeit nicht sehr vom Selbstmord, da es ja letzten Endes außer der Gemeinschaft der Heiligen nur die Gemeinschaft der Toten gibt, der wahrhaft Toten, die ihre Seelen gehaßt haben, die ewig Toten. Auch sie haben sich getötet in der Absicht, über ihren Nächsten Unheil zu bringen. Der Mensch, der bereitwillig sagt: „Ich bin kein Heiliger”, begeht geistig die Schreckenstat des verzweifelten Chinesen. Er glaubt im Dunkel, das ihn umgibt, nur über eine Stufe zu steigen und steigt in den Abgrund.

ICH MACHE MICH NICHT BESSER, ALS ICH BIN

Scherz beiseite, Bürger! Wenn du kein Heiliger bist, was ich zugebe, steht dir die Demut schlecht. Nicht darum geht es, dich besser oder schlechter zu machen, sondern einfach der zu sein, der du bist. Nun bist du schon sehr gut, ohne Verdienst und ohne Mühe, einzig durch die Vortrefflichkeit deines Wesens. Um ein kleines, und du wärest zu gut.

Doch dies nebenbei. Wenn der Bürger erklärt, er mache sich nicht besser, als er ist, kann man im allgemeinen sicher sein, daß er sich nicht schlechter machen kann, selbst wenn er wollte, und daß er es ironisch meint.

„Du bist ein Rindvieh”, brüllte ein zum Tode Verurteilter dem Henker zu, der sich anschickte, ihm die Haare zu scheren.

„Ich mache mich nicht besser, als ich bin”, erwiderte höchst sanftmütig der Nachrichter.

REDEN IST SILBER, SCHWEIGEN IST GOLD

Wird nie verstanden werden. Es wäre der Gipfel der Lächerlichkeit, auf einen einzigen Hörer zu hoffen, sagte man etwa, im tiefsten Sinn der Heiligen Schrift sei das Wort gleichbedeutend mit dem Silber, das goldene Schweigen aber ein Bild des ewigen Lebens.

Es hieße, die Zwangsjacke verlangen, versuchte man davor zu warnen, an Kräfte zu rühren, die, einmal geweckt, vielleicht ohne Gnade weiterwirken wie die Geister, die der verwegene Zauberlehrling zu rufen, aber nicht mehr loszuwerden verstand.

Ich versuche es also gar nicht und begnüge mich, ohne Hoffnung, gehört zu werden, zu sagen, daß dies angebetete Silber, das Geld, das dem Bürger alleinigen Lebensinhalt bedeutet, einen geheimnisvollen Willen bezeichnet von unberechenbarer Expansionskraft und dennoch nur das Kleingeld jenes Unsagbaren darstellt, des ewig ersehnten goldenen Schweigens, zu dem alle Bürger so vergeblich aufgefordert werden.

Wenn der schlafende Herr des königlichen Propheten sich umwenden wird auf dem Lager der Jahrhunderte, wird eine ubernatürliche Wandlung eintreten, der gleich, die sich am Beginn des christlichen Äons vollzog. Jesus wird kaum mehr sichtbar sein, das Wort ausgelöscht scheinen, die vormals apostolische Predigt aufhören; doch am andern Ende des Himmels wird das strahlend goldene Antlitz dessen erscheinen, der sich selber unerforschlich das Schweigen nennt …

Das sagt unwissentlich der Steuereinnehmer, wenn er in seinen einbruchsicheren Kassen die erbeuteten klingenden Münzen aufeinanderstapelt.

GELD MACHT NICHT GLÜCKLICH, ABER …

Gemeinplatz ersten Ranges, allerdings fordert er den „Ver-trauten” der antiken Tragödie. Der muß nämlich sogleich hinzufügen: „Aber es trägt dazu, das heißt zum Glück, bei”. Dann ist alles in schönster Ordnung.

Dieser bescheidene Beitrag, der die herbe Schwermut eines sonst so blasphemisch anmutenden Bekenntnisses so glücklich mildert, muß von außerordentlicher Wirksamkeit sein. Er ist gleichsam Zucker aufs Gewissen oder Pomade aufs Herz.

‘Ja’, überlegt der Bürger tiefsinnig, ‘es ist richtig: Geld macht nicht glücklich, besonders wenn es einem fehlt’ Es macht beinahe glücklich, zweifellos, aber nicht ganz. Irgend etwas fehlt, man muß es zugeben, und voll unendlicher Trauer erlebt man diese Ohnmacht des Geldes, das die Glückseligkeit derer sichern sollte, die es anbeten, da es ja wahrhaftig ein Gott ist.

Ich habe schon darauf hingewiesen, daß das in unserer Zeit bezeichnenderweise abgewertete Geld oder Silber in der Schrift als ein Gleichnis des leidenden Wortes gilt, der zweiten Person der göttlichen Dreifaltigkeit, des Heilands also. Zu sagen, daß er nicht glücklich macht, ist für einen Christen eine kühne, an Frevel grenzende Behauptung, und wirklich ist denn auch dieser Gemeinplatz ein christlicher. Den Beweis dafür finde ich in jener schön stilisierten Milderung, die Gott zum Beiträger des Glücks der Schwachköpfe macht.

Ein Heide würde rundweg sagen: „Ja, das Geld macht glücklich”, und er hätte furchtbar recht. Du aber, knausernder Bürger und Scheinchrist, in dessen Dunstkreis alle Symbole des göttlichen Lebens ihren Glanz verlieren wie die Perlen an einem Aussätzigen; du, für den das Geld ganz sicher das Heil bedeutet, warum lügst du? Aus welcher Furcht? Ist doch dein Unverstand sicher vor jedem Prophetenwort, und du brauchst nicht zu bangen, daß dir bei der Erwähnung des Geldes das „Haupt voll Blut und Wunden” erscheinen könnte!

LEBEN UND LEBEN LASSEN

Es wäre kindisch, zu fragen, was der Bürger unter leben versteht. Die Verfasser naturalistischer oder psychologischer Romane, die er mit seinem Vertrauen beehrt, haben zur Genüge bewiesen, daß es in der Verrichtung der natürlichen Funktionen besteht, des Verdauens, Schlafens und Fortpflanzens, wie sie allen Geschöpfen zukommen, vor allem aber darin, viel Geld zu verdienen — der Wesenszug des Menschen, der ihn vom Tier unterscheidet. Indessen war man schon lange vor diesen Erleuchteten überzeugt, daß, wer gut zu essen gewohnt ist, gut lebt.

Anders steht es mit leben lassen. Genügt es denn nicht, daß der Bürger und der Bürger allein lebt?

In der von der seinen so verschiedenen Sprache des Religiösen hat, wie er recht gut weiß, das Wort leben einen anderen Sinn. Was geht ihn das an? Mögen Rappelköpfe oder Hysteriker für ihr sogenanntes Seelenheil leben und dabei verhungern, das ist ihre Sache; daß sie uns Bürger aber für faulende Kadaver ausgeben, ist höchstens erheiternd. Nehmt es nur einmal zur Kenntnis, ihr Pfaffen und Küster, wir sind religiöser als ihr, was schon damit bewiesen ist, daß wir uns einen blauen Teufel um Himmelreich und Seligkeit scheren!

ALLE WEGE FÜHREN NACH ROM

Unwiderlegbares Argument für die Kugelform unseres Planeten. Gäbe es einen Weg, der nicht nach Rom führte, so würde man ihm, glaube ich, den Vorzug geben, denn Rom, das ist doch schließlich der Papst, nicht wahr? Bloß, es gibt keinen. Alle nur erdenklichen Wege sind nach Rom gerichtet. Es ist die Endstation, der man nicht ausweichen kann.

Zum Glück braucht man den Weg nicht zu Ende zu gehen. Es besteht die Möglichkeit, an einer Kreuzung anzuhalten und einen andern Weg einzuschlagen, der zwar auch letzten Endes unfehlbar nach Rom führt, aber via Gesellschaftsinseln oder Nordkap, was die Gefahr abrückt. Man könnte so das ganze Leben lang reisen, immer rund um den Planeten und den unbeweglichen Papst herum in aller Gemütlichkeit.

Ich empfehle dies den Salontouristen, die sich in der toten Saison ein kleines Vergnügen leisten wollen.

DAS WETTER

Die Meteorologie muß in einem Krämerladen entstanden sein. Bekanntlich sind es diese schätzenswerten Handelsbeflissenen, die täglich alle ihre Kunden ausnahms-und schonungslos mit Berichten über das herrschende oder nur wahrscheinliche Wetter versorgen. Sie tun es mit einer Genauigkeit, der nichts entgeht, kein Wölkchen, kein Sonnenstrahl, kein Lüft-chen aus Nord oder West, und jedermann kann augenblicklich von ihnen profitieren.

Was mich überwältigt, ist der Eifer und die Unermüdlichkeit dieser biederen Meteorologen. Sie geben tausend Kunden Auskunft und würden sie dem Teufel nicht verweigern.

„Und was noch?” fragen sie lächelnd. Ob man ungeduldig erwidert, daß man nichts mehr brauche, ob man es ihnen wütend zubrüllt, gleichviel. „Dann eben das nächste Mal”, seufzen sie liebevoll und geleiten einen dankbar und ehrerbietig zum Ausgang, wenn möglich noch mit einer letzten günstigen Wettervorhersage.

Das Wetter ist ein universales und unerschöpfliches Gesprächsthema. „Unser Gespräch”, sagte der heilige Paulus, „ist im Himmel.” Ein erstaunlich prophetisches Wort, wie man sich nach neunzehn Jahrhunderten täglich dreißig Millionen Male überzeugen kann, nicht nur beim Krämer, sondern bei jedem Bürger.

Es gibt welche, die das höchste Alter erreichen und hochgeehrt und in weit fortgeschrittener Verblödung sterben, ohne jemals von etwas anderem geredet zu haben als den Vorgängen im Himmel.

ICH HAB’ KEIN KLEINGELD

Das ist die Antwort, mit der ein fettglänzender Dickwanst einen Elenden abspeist, der ihn um hundert Sous bittet, nachdem er vergeblich zwanzig Franken verlangt hat. Es handelt sich nicht um ein Almosen. Der Bittsteller ist kein Unbekannter, er wird seine Arbeit leisten. Was sag’ ich, er hat sie schon geleistet, er kann nur den für ihn festgesetzten Auszahlungstermin nicht erwarten.

Unglücklicherweise ist der Gebetene ein Mann mit „festen Prinzipien”, der nie Vorauszahlungen gibt. Darin ist er unerschütterlich. Man kann ein Wunder wirken, aber nicht einen Bürger dieser Art umstimmen. Eher erweicht das Gebet einen starren Leichnam als diese starren Prinzipien.

Da der Bittsteller heftig drängt, den Eindruck eines Verzweifelten macht und die Umgebung ziemlich öde ist, unterläßt es der andere zunächst, von seinen Prinzipien zu reden, und begnügt sich mit der Feststellung, er habe kein Kleingeld.

„Wollen Sie, daß ich wechseln gehe?” meint der Bittsteller.

Welch entsetzlicher Vorschlag. Der Bürger glaubt die Stimme eines Straßenräubers zu hören, der ihn mit dem Tode bedroht. Da kommt ihm ein rettender Einfall. Er erklärt, selber auf dem hell erleuchteten Platz, den man am Ausgang der Gasse sieht, sein Geld wechseln zu lassen. Dort angekommen, übergibt er seinen Begleiter zwei Polizisten, die ihn sofort festnehmen.

Der Unglückliche wird im Arrest übernachten, soviel ist sicher, und die armen Kleinen, die auf ihr Nachtessen warten, werden ohne dieses und mit klappernden Zähnen zu Bett gehen, und das ist keine Metapher. Wer nie gehört hat, wie kleinen Kindern die Zähne klappern, der kennt die letzte Tiefe des menschlichen Elends noch nicht.

Jener Gerechte aber, befreit und mit sich zufrieden, nimmt einen Wagen, um sein Geld in einem Nachtlokal zu wechseln. Es ist also alles in Ordnung. Doch nun passiert etwas. In eben dieser Nacht, die er durchschwelgt und durchzecht, gehen seine riesigen Holzlager in Feuer auf, und am nächsten Tag beziffern die Zeitungen seinen Verlust auf sechshunderttausend Franken.

Was soll man davon denken? Gibt es Worte, die an sich schon zünden ohne sichtbare Hand? Der verzweifelte Bittsteller sitzt hinter Schloß und Riegel, und seine hungernden Kinder weinen im Dunkel, und ihre Zähne klappern. Nicht immer läßt sich die Schuld auf sie abschieben. Der Mann mit den festen Prinzipien wird doch gut daran tun, in Zukunft Kleingeld zu haben. Man kann nicht wissen. Gott geht in mancherlei Verkleidung durch die Welt, und das Feuer ist vielgestaltig. Vielleicht bedient es sich eines Strolches, der kommt und geht, man weiß nicht woher und wohin. Manchmal fällt es vom Himmel wie auf Sodom — lotrecht vom Himmel.

ICH KÖNNTE IHR VATER SEIN

Vielleicht der seltsamste aller Gemeinplätze.

Um seine ganze Ungeheuerlichkeit zu begreifen, versuche man, sich einen verschmitzten, alten Juden vorzustellen, der zu Jesus sagt: „Ich könnte Ihr Vater sein.”

„Ehe Abraham ward, bin ich .. antwortet Er, der alles, was ist, geschaffen hat.

Diese Worte des Evangeliums aus dem Munde eines Dreißigjährigen, der Tote erweckte, um dann selber von den Toten aufzuerstehen, machen wenig Eindruck auf die Radfahrerseelen des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Menschen von damals aber, die sich nicht bückten, um den Meister zu sehen, und zu Fuß gingen, müssen sie unerhört gefunden haben.

In diesem Augenblick erschien die Idee der Waterschaft, vom Menschen auf Gott, von der Zeit auf die Ewigkeit übertragen, nahezu unfaßbar. Mochte Abraham seinen Namen beibehalten, man wußte nicht mehr, wer der Vater war, wer Zeugender oder Gezeugter. Und diese Ungewißheit allein rückte die Menschheit in einen Bereich, in dem das Christentum möglich wurde. Vater unser.

Heute, nach so vielen Generationen von Christen — und was für Christen — traut man kaum seinen Ohren, hört man ein angeblich vernunftbegabtes und im Namen der drei göttlichen Personen getauftes Wesen, sei es zu einem Kind, und sei es selber Jahrhunderte alt, sagen: „Ich könnte dein Vater sein”, einzig um damit einen läppischen Altersunterschied auszudrücken — als wüßte man jemals, wen man vor sich hat, wer man selber ist, und als könnte diese erstaunliche Möglichkeitsform irgendeinen Sinn haben, wenn nicht diesen:

„Ich, Gott selber, bin es, der mit dir spricht, ohne daß du es auch nur ahnst!”

MAN STIRBT NUR EINMAL

Könnte auch heißen: man lebt nur einmal, und schon das ist zuviel, wenn man ein Schwachkopf ist oder ein Übeltäter, was der Bürger — wie oft werde ich es noch wiederholen? — niemals sein kann.

Es wäre dennoch interessant, zu wissen, was er unter sterben versteht, gleichviel, ob einmal oder mehrmals. Ich habe schon gefragt, was er etwa unter leben verstehen mag, und die Antwort fiel so unbefriedigend aus, daß ich den Mut zu weiteren Fragen verliere. Der Bürger ist ein Schlaukopf und sagt nur, was er will.

Eins nur — oh, eine Geringfügigkeit — scheint mir klar. Daß er nicht die Apokalypse im Sinn hat, die von einem „zweiten Tod” spricht. Aber die Welt weiß ja nun nachgerade, was sie von der Apokalypse zu halten hat. Man hat sie satt, alle diese Geschichten vom Feuerpfuhl und vom Schwefelregen, von Heuschrecken und Skorpionen, dem Schlund der Tiefe und dem Tier mit den zehn Hörnern.

Voltaire, der heute nicht mehr genug gelesen wird, hat auf all das und auf vieles andere noch triumphierend in seinem unsterblichen „Dictionnaire philosophique” geantwortet. In unvergleichlich edler Sprache erklärt er dort das Genie und überhaupt alle Manifestationen der menschlichen Seele, für die man früher die Inspiration von oben bemüht hat, als Folgeerscheinungen hartnäckiger Stuhlverstopfung. Ein wirksames Abführmittel, und aus Napoleon wird im Nu ein Flachkopf. Man vertiefe sich nur in die Dünnschisse Voltaires, der, weiß Gott, nicht an Hartleibigkeit litt, und man wird erfahren, ob das nicht zweimal sterben heißt.

Nachschrift. Es ist darauf hinzuweisen, daß Voltaire kein Fachmann hinsichtlich der Exkremente war.

MAN GLAUBT, ER SCHLÄFT

Kein Aufgebahrter, ob Held oder Bürger, entgeht diesem Gemeinplatz. Nicht genug, daß man stirbt, man muß auch ihn über sich ergehen lassen. Wie oft habe ich ihn gehört und die Fäuste geballt!

Was für ein Schlaf aber, mein Gott! Ich habe diese fetten, erdfarbenen, fahlen Leichen gesehen, die, schon halb verrottet, schrecklich und kläglich zugleich ausschauten, als läge die leibhaftige Dummheit auf der Bahre.

Ich habe andere „Selige” gesehen, die im Todeskampf wieder den Tiercharakter erlangt hatten, der zu ihren Lebzeiten von unzulänglichen Seelenregungen verwischt worden war. Sie glichen Pferden, Wölfen, Schweinen, Krokodilen, Affen, Larven aus Alpträumen. Einer, ich getraue mich kaum, es hinzuschreiben, sah einer überlebensgroßen Wanze ähnlich.

Ich habe die Leiche eines großen Dichters gesehen, der weinend gestorben war und auf dessen Antlitz man noch die doppelte Spur der Tränen gewahrte.

Ich habe die eines Kindes gesehen, einem Chorführer der Engel gleichend, der die Erlaubnis erhalten hatte zu sterben und nun mit geballten Fäusten und geschlossenen Lippen standhaft auf seinen Abruf zu warten schien.

Und endlich ist das Schreckensbild eines 1870 in einem Winkel des Schlachtfelds umgekommenen deutschen Soldaten meinem Gedächtnis eingeprägt geblieben. Man konnte nicht sagen, er sei „gefallen”, da man ihn mit einem furchtbaren Bajonettstoß an eine Stalltür genagelt hatte. Die Waffe, die nicht nur die Brust des Mannes durchbohrt hatte, sondern auch tief ins Holz gedrungen war, hatte sich nicht herausziehen lassen; der Mörder hatte daher nur seinen Gewehrlauf losgemacht und den Sterbenden wie eine aufgespießte Nachteule hängen lassen. Nie werde ich den Ausdruck des Entsetzens, der Angst und Verzweiflung in diesem Gesicht vergessen.

Ein junger Bürger führte mich einmal vor die seit einigen Stunden feierlich aufgebahrte Leiche seines Schwiegervaters.

Man hatte die Karten bereits versendet und alles für das Begräbnis vorbereitet, das am folgenden Tag stattfinden sollte.

Der Verstorbene war ein alter verabschiedeter Offizier aus der guten Zeit, ein schlichter Ehrenmann, den ich fast ebensosehr seiner Beschränktheit wie seiner Geradheit wegen liebte.

„Sieht er nicht aus, als ob er schlafe?” sagte der Schwiegersohn.

Ich hatte gute Lust, den Schwachkopf zu ohrfeigen, aber nach einem aufmerksamen Blick erkannte ich, daß ich eine Art Dämon vor mir hatte. Die Freude, ein paar Sous zu erben, war ihm trotz aller Bemühungen anzumerken. „Wer einmal so daliegt”, dachte er wohl, „der steht so bald nicht wieder auf.”

Nachdem ich heimlich ein De profundis gebetet, beeilte ich mich, aus dem Dunstkreis des Erben zu kommen, als der Tote die Hand an die Stirn hob und die Augen öffnete…

Mit einer Geistesgegenwart, die mich noch heute in Erstaunen setzt, löschte ich blitzschnell die Kerzen aus und ließ den ganzen Leichenprunk verschwinden. Dann wandte ich mich dem Schwiegersohn zu, der einen Schrei ausgestoßen hatte und dessen erstarrte Fratze einem Höllenbewohner anzugehören schien.

„Holen Sie Ihre Frau”, sagte ich. „Ihr Schwiegervater hat, wie Sie sehen, ausgeschlafen.”

QUO VADIS?

Schalten wir hier schnell diesen literarischen Gemeinplatz ein, der so kurzlebig war und nur einige Monate lang umlief. Oh, ich habe nicht die Absicht, von diesem flachen Buch zu reden, dem schon sein Erfolg das Urteil gesprochen hat und das von Katholiken und Protestanten so einmütig bewundert wurde, geistig keine Ehre für beide. Priester haben sogar auf der Kanzel daraus zitiert …

Ich wollte nur die folgende Anekdote erzählen. Am Bahnhof von Lagny gingen zwei Geistliche eilig vor mir her, Angehörige der intelligenten Diözese von Meaux, wie ich gern annehmen möchte. Plötzlich lief der eine, der es offenbar noch eiliger hatte als der andere, auf das Pissoir zu. — „Quo vadis?” rief ihm sein Kollege nach. Die Antwort des andern hörte ich nicht mehr, sie war ja auch unerheblich.

DIE ZEIT TOTSCHLAGEN

In der Rhetorik des Bürgers heißt die Zeit totschlagen, wie ich kaum zu sagen brauche, einfach sich amüsieren. Mopst sich der Bürger, lebt die Zeit oder steht wieder auf. Ob man es begreift oder nicht: es ist so. Sobald sich der Bürger amüsiert, ist man in der Ewigkeit. Die Unterhaltungen des Bürgers gleichen dem Tod.

SPASS MUSS SEIN

Zu den gewohnheitsmäßigen Spaßmachern zählen vorzugsweise Angestellte von Leichenbestattungen, Sträflingsaufseher, Gerichtsdiener, Chirurgen und Henker. Anscheinend gehört es zum Beruf.

Villiers de I’Isle-Adam, der für Hinrichtungen eine Leidenschaft hatte und bei den Herren von der Guillotine als ein aufgeklärter Liebhaber galt, versicherte, er sei dabeigewesen, als der Scharfrichter zehn Minuten vor der Exekution einem seiner Kunden munter auf die Schulter klopfte und sagte: „Sie sollen sich über mich nicht beklagen können, mein Lieber.”

Er hatte ihm eine jener kleinen Begünstigungen zukommen lassen, die ein Geheimnis des Henkers sind. Villiers war die krächzende Stimme des Freimanns im Ohr geblieben. Es sei, versicherte er, unwiderstehlich gewesen — was immer man unter diesem Adjektiv verstehen will.

DIE ZUKUNFT SEINER KINDER SICHERN

So lang schon beschäftigen sich die Väter mit der Zukunft ihrer Kinder; ist es da nicht seltsam, daß die Kinder nie an die Zukunft ihrer Väter denken? Wer kommt auf derlei Einfälle und welche Zukunft kann er meinen? Den Bürger verblüffen solche Fragestellungen. Sie liegen dennoch nahe genug. Es ließe sich der Fall vorstellen, wo das Kind den Vater schafft.

„Von all den Ahnen stamm’ ich her dem Blute nach, Doch da ich aufschrieb, was sie taten, leben sie durch mich.”

Heut fast vergessene Verse Corneilles, deren Pathos Alfred de Vigny, den adeligen Dichter, über die Schmach tröstete, nicht als Kramladenbesitzer auf die Welt gekommen zu sein und weder einen Kundenstock noch sonstige Glücksgüter vertrottelten Kindern hinterlassen zu können.

Der mit Glücksgütern gesegnetere Bürger tröstet sich in einer anderen Sprache. Was seine Ahnen anlangt, so braucht er weder von ihnen herab-noch zu ihnen hinaufzusteigen. Sein ganzer Stammbaum verbreitet sich seit Jahrhunderten horizontal in der Fläche und bleibt auf der niedrigsten Stufe, und die ist, falls kein Wunder geschieht, die Zukunft, die allem, was von ihm stammt, sicher ist.

Falls kein Wunder geschieht, doch zuweilen geschieht eins. Auch aus dieser Anhäufung von Auswurf kann ein Ausnahmewesen entstehen. Für welche Zukunft aber könnte ein solcher Nachkomme seinen Vätern danken? Ich überlasse die Lösung dieses Problems dem Scharfsinn und Witz meiner Leser.

SEINE ILLUSIONEN VERLIEREN

Das ist der allererste Programmpunkt. Er könnte sogar der einzige bleiben, so sehr enthalt und umschließt er alle übrigen. Ein Bürger ohne verlorene Illusionen gliche einem geflügelten Nilpferd. Im Grunde ist Illusion alles Unverdauliche. Man erkundige sich doch bei den Viehzüchtern. Es gibt keine Illusion, die beim Schweinemästen einen Sack Kartoffeln ersetzen könnte. Zweifellos; aber damit sind noch nicht alle Schwierigkeiten beseitigt.

Was ist unter dem Wort Illusion eigentlich zu verstehen? Gibt es Illusionen, die dem Bürger eigen sind, und andere, die nur Helden und Dichter hegen? Ist ein großer Künstler, der etwa meint, man müsse „eine Karriere wählen” oder dasselbe Gewicht Rübenzucker sei nicht weniger wert als der Moses Michelangelos, in allzu selbstlosen Illusionen befangen, die er besser aufgeben sollte? Ja oder nein?

Ein Leihhausangestellter, dem ich diese Frage vorlegte, fragte mich, ob ich bei Trost sei. Mit Recht. Die Antwort ist nicht ungefährlich.

DAS MARTYRIUM ERLEIDEN

Er erleidet ein Martyrium, er leidet wie ein Märtyrer. Sooft ein Bürger, bevor er abkratzt, die Niedertracht seines Daseins sühnt, ist er ein Märtyrer; unvermeidlich. Ein wunderbares Wort, eine wunderbare Idee wird so in den Schmutz gezerrt, es ist immer das gleiche. Früher hieß Märtyrer soviel wie Blutzeuge, hieß freiwillig und unter furchtbaren Qualen Zeugnis ablegen für die gekreuzigte Wahrheit. Anders heute.

Das Martyrium des Unternehmers, durchaus verschieden von dem der Jungfrauen, besteht darin, unfreiwillig und unter Geschrei und Flüchen zu leiden, bis er endlich zur großen Erleichterung seiner Familie als stinkender Kadaver daliegt und von ihr zu den „Seligen” gezählt wird. Es scheint mir freilich bedenklich, auf ihn das von dem gewaltigen afrikanischen Kirchenvater geprägte Wort vom Semen chri-stianorum anzuwenden. Die Jauche und Fäulnis, die dieser Leichnam hinterläßt, dürfte eher die Ausbreitung der Pest begünstigen.

Doch es gibt Worte, die weder Ruhe noch Gnade kennen, Worte jenseits des Menschlichen, die wie Wölfe den umkreisen, der sie mißbraucht. Mit unerbittlicher Notwendigkeit müssen diese Worte, gleichviel um welchen Preis, die ihnen gemäße Wirklichkeit schaffen. Und so wird der Mensch, der es ablehnt, freiwillig Zeuge des Seienden zu sein, unentrinnbar der unfreiwillige und gespenstische Gehilfe des Nicht seienden, der auch sein: Märtyrer haben will.

EINE GUTE PARTIE MACHEN

Grundsätzlich und allgemein gesprochen, heißt eine gute Partie machen, sich mit dem ersten besten verheiraten. Das läßt sich leicht beweisen.

Nicht den ersten besten zu heiraten, sondern einen, den man kennt, setzt notwendig Wahl und Neigung voraus. Das nach bürgerlichen Begriffen Unstatthafte eines solchen Vorgehens brauche ich wohl kaum genauer zu kennzeichnen.

Die erste und unerläßliche Voraussetzung für eine gute Partie ist die Berücksichtigung der Geldfrage, jede andere Rücksicht ist müßig und daher gefährlich.

Rechnen, das ist die sicherste Einleitung, das richtige Vorspiel, die obligate Übung für Leute, die die ernsthafte Absicht haben, miteinander schlafen zu gehen. Der Segen des Priesters, falls man diese unbedeutende Formalität beibehält, und der entscheidendere Spruch des Standesbeamten müssen dann den Bund zweier Menschen legalisieren, die nicht mehr, ja viel weniger voneinander wissen als brünstige Tiere. Das ist alles, was zu einer guten Partie gehört; Geld heiratet und Geld vermehrt sich.

SEINE JUGEND GENIESSEN

Ein verlorener Sohn, der zwar nicht die Schweine gehütet hatte, doch selber der Hütung gar sehr bedurft hätte, ist nach dreijährigem Studium aus Paris in sein Elternhaus zurückgekehrt. Wie gründlich er sein Studium betrieben, beweisen der schöne Narbenkranz um seine Stirn, eine fehlende Lippe, Augen, die gelb sind wie Chrysanthemen, und vier blaue Beulen im Gesicht.

Ich weiß nicht, ob ihm zu Ehren ein fettes Kalb geschlachtet wurde, aber man sagte von diesem Jüngling, er habe seine Jugend genossen, sich ausgelebt. Neulich war im Lokalblatt die Vermählung dieses reichen Erben mit der ältesten Tochter des hiesigen Tierarztes angezeigt. Man kann sich gut vorstellen, wie die schüchterne unschuldige Braut von den Jungfrauen beneidet wird.

EIN FÖRDERER DER KÜNSTE

Wenn der Bürger, von den Geschäften zurückgezogen, seine letzte Tochter verheiratet hat, widmet er sich der Förderung der Künste. Das und das Briefmarkensammeln halten am längsten. Diese famose Förderung besteht darin, hohe Summen für den Schund und Kitsch „anerkannter” Künstler zu bezahlen. Nicht eine Sekunde würde er zwischen einem noch unbekannten Memling und einem Pinsler aus dem Luxem-bourg schwanken. Ein Meisterwerk, das nicht im Bestellkatalog zu finden ist, wird er mit der Bemerkung ablehnen, daß er keine „Schmierfinken” fördert.

Er hat eine untrügliche Witterung für die Virtuosen der Leere, die Hohlköpfe, die Schundfabrikanten. Besonders die letzten sind ihm ans Herz gewachsen. Sie schaffen ihm, was er braucht! Sein innigster Wunsch, sein tiefstes Bedürfnis, seine Sehnsucht ist die Besudelung des Schönen, das er in den tiefsten Kot getreten sehen will, und das leisten die Meister des Schunds in unübertrefflicher Weise.

ES IST NIE ZU SPÄT, DAS GUTE ZU TUN

Feindschaft des Wörtchens „zu”. Wiederum geraten wir in Verlegenheit. War es wirklich nie zu spät? Sollen wir glauben, daß es eine Stunde gibt, wo es spät genug, doch nicht zu spät ist, und eine andere Stunde, wo es zu früh ist und noch Zeit, das Böse zu tun? Diese letzte, so entscheidende Stunde, wann beginnt, wann endet sie? Soll ich mich um halb sechs Uhr morgens losreißen aus den Armen des Lasters, um mich um viertel sieben in die der Tugend zu stürzen? Ist das früh genug oder ein wenig spät oder schon sehr spät, aber immer noch nicht zu spät? Würde ich besser tun, bis sieben Uhr abends oder bis Mitternacht zu warten?

Doch lassen wir das. Worum geht es denn eigentlich? Gemeinplätze sind die Sprache des Bürgers. Die Sprache des Bürgers, man bedenke! Also die einfachste Sache von der Welt. Was heißt denn das Gute tun, wenn nicht tun, was der Bürger will, was ihm gefällt, was ihm Vorteil bringt, was er vorschreibt und anordnet und nichts weiter?

Läßt du dir etwa für ihn den Schädel einschlagen und schenkst ihm deine ganze Habe, so erfüllst du, seiner Ansicht nach, nur deine Pflicht, etwas spät vielleicht, doch nicht zu spät. Findet anderseits er Mittel und Wege, dir dein Geld, dein Haus, deine Frau zu nehmen oder dir auch noch die Haut abzuziehen, und scheint ihm dies nützlich oder angenehm, so hast du dir es gefallen zu lassen und nicht aufzumucken. Er nämlich tut immer und ausschließlich das Gute und tut es zur rechten Zeit, das heißt, wann es ihm paßt, und daher nie zu spät.

WENN MAN ALLES WÜSSTE

Man wäre Gott, eine höchst peinliche Situation, da man sich gezwungen sähe, die eigene Existenz zu leugnen, wollte man nicht Gefahr laufen, für einen Dummkopf zu gelten, sich’s mit seinem Logenmeister zu verderben und im ganzen Viertel in Verruf zu kommen. Man fände nirgends mehr Glauben und würde von niemand gegrüßt. Man stünde im Verdacht, Wunder zu wirken und einen Gekreuzigten in der Familie zu haben. Und am Ende könnte der philosophisch ungebildete Pöbel Substanz und Akzidens verwechseln und den der Göttlichkeit verdächtigen, allwissenden Bürger einen Pfaffen heißen.

Oh, glauben Sie mir, das sicherste ist, nichts zu wissen und vor allem die Dinge im Nichts zu lassen, auch sich selber. Zumindest ist das die Tradition. Wann hätten die Ahnen unserer Bürger es für vorteilhaft gehalten, Mond und Sterne zu schaffen, wollen Sie mir das nicht sagen? Es gibt so viele Dinge, von denen man besser nichts weiß, und so viele andere, die man besser nicht tut! Der Sinn des Lebens, besteht er nicht darin, viel Geld zu verdienen und dann ewig tot zu sein?

MAN KANN NICHT AN ALLES DENKEN

Immer vernünftig bleiben. Ich muß doch vor allem einmal an meine Geschäfte denken; dann an die Geschäfte der andern, um da, wenn möglich, mein Schäfchen zu scheren; schließlich an mein Vergnügen. Wo, zum Teufel, soll ich die Zeit hernehmen, noch an anderes zu denken?

Sie erzählen mir da etwas von Gott, finde ich rührend nett von Ihnen; aber im Ernst, was soll ich mit Ihrem lieben Gott anfangen? Ich denke nie an ihn, habe nie an ihn gedacht, und wenn es für mich einmal Zeit sein wird, abzufahren, so bitte ich Sie, mir zu glauben, daß ich auch dann nicht an ihn denken werde. Sagen doch die Priester selber:

Wir sind Staub und werden zu Staub. Wozu sich das Leben mit all diesen Witzen erschweren?

Ich finde es urkomisch, daß Sie sich für mein Seelenheil interessieren, als ob ich mich um das Ihre bekümmerte! O du meine Güte, man merkt Ihnen an, daß Sie kein Geschäftsmann sind. Sie wüßten sonst, daß man, ohne an alles zu denken, schon an seinem Kassabuch genug und zuviel zu denken hat. Lieber Herr, ich will Ihnen etwas verraten. Der Gott, den ich brauche, muß Geschäftsmann sein. Sie sollen sehen, wie herrlich wir uns dann verstehen würden. Auch er hätte keine Zeit mehr, an alles zu denken. Er würde die Sonntagssperre abschaffen und uns in Ruhe lassen, dafür bürge ich Ihnen …

Das sind die Worte dessen, der nun die Stelle des wilden Rufers einnimmt, der vor Zeiten verwegenen Seefahrern am Kap der Guten Hoffnung erschien.

MAN KANN NICHT ZWEI DINGE ZUGLEICH TUN

So lautet die bürgerliche Übersetzung von Nemo potest duo-bus dominis servire. Niemand kann zwei Herren dienen. Es ist eine Art Scham, die eine wörtliche Zitierung der Schrift verbietet, wie das Wort Ding verrät. Man sagt ja ähnlich: Das Ding tut ihm weh, oder er fürchtet sich, sein Ding zu zeigen. Denn der Bürger schämt sich des Schönen oder Edlen, wie andere sich des Unanständigen und Häßlichen schämen. Die feine Unterscheidung beweist sein Genie.

Doch der heilige Text bindet und zwingt ihn nicht einmal in dieser Übersetzung, denn dieser Besessene dessen, der sich Legion nennt, Bewohner, ohne es zu wissen, der Gräber der Wüste und kaum von zweitausend Schweinen zu beherbergen, weiß immer wieder allen seinen Bändigern zu entrinnen.

Der Bürger wäre nicht mehr er selber, wäre er im Einklang mit dem Geist des Herrn. Er gibt zu, man könne nicht zwei gegensätzliche Dinge tun, gewiß, doch nur wenn man versucht, sie gleichzeitig zu tun. Sonst nämlich geht das prächtig. Seinen Vater ehren, etwa, und ihm einen Kübel Dreck ins Gesicht schütten, sind für ihn zwei durchaus vereinbare Akte, falls man nur darauf achtet, sie nicht innerhalb derselben Viertelstunde zu vollführen. Es geht nun darum, zwei Dinge nicht zugleich zu tun. Wunderbare Milderung eines allzu strengen Gebotes. Es genügt, einen Blick auf seine Folgen zu werfen, seine zahllosen Anwendungen …

Wann wird doch der Schuhmacher kommen, der das Evangelium endgültig festnagelt?

ALLES ZU SEINER ZEIT

„Alles hat seine Zeit”, sagt der Prediger Salomo, „und alle Dinge unter dem Himmel vollenden sich zu ihrer Zeit.”

  • Es ist Zeit, geboren zu werden in Bethlehem, und Zeit, zu sterben auf Golgatha;
  • Zeit, das Kreuz zu pflanzen, und Zeit, es loszureißen;
  • Zeit, die Seelen zu töten, und Zeit, sie zu heilen;
  • Zeit, das Haus von Gold zu zerstören, und Zeit, das Haus von Silber zu bauen;
  • Zeit, bei Christi blutigem Leidensweg zu weinen, wie die Töchter Jerusalems weinten, und Zeit, zu lachen, wie das schreckliche Weib lachen wird am letzten Tag;
  • Zeit, zu trauern mit der Jungfrau, deren Herz sieben Schwerter durchbohren, und Zeit, zu tanzen mit der hurenden Tochter der Blutschänderin, um das Haupt des Täufers zu verlangen;
  • Zeit, die lebenden Steine zu zerstreuen, und Zeit, sie zu sammeln;
  • Zeit, zu herzen den Geliebten, der von den Hügeln gesprungen kommt, und Zeit, zu fliehen vor den furchtbaren Umarmungen, aus denen es keine Befreiung gibt;
  • Zeit, alles zu erlangen, und Zeit, alles zu verlieren;
  • Zeit, das Gesetz des Herrn zu wahren, und Zeit, es fortzuwerfen wie ein unnützes Kleid;
  • Zeit, den Vorhang des Tempels zu zerreißen, und Zeit, das Leichentuch des Heilands zu nähen;
  • Zeit, zu schweigen unter der Unbill, und Zeit, zu reden im Leuchten des Blitzstrahls;
  • Zeit für die Liebe, die stark ist wie der Tod, und Zeit für den Haß, der köstlich ist wie die Eucharistie;
  • Zeit für den Krieg wider die Heiligen, und Zeit für den unsäglichen Frieden der seligen Toten.

„Was sonst”, fragt Salomo, „kann der Mensch erhoffen von seiner Arbeit?”

„Ich erwarte von der meinen die Ähnlichkeit mit den Dämonen und eine Stätte bereit zu finden in ihren Kammern der Verzweiflung”, wird die Antwort des Bürgers lauten, wenn für ihn die Zeit der letzten Erkenntnis gekommen ist.

ZEIT IST GELD

Bis zu der absolut sicheren, richtigen und lichtvollen Antwort, die oben zu lesen war, wird der Bürger die Bemerkung nicht unterdrücken können, daß all die verschiedenen Zeiten, die der Prediger erwähnt und die die Summe der Zeiten sind, einzig und allein Geld darstellen unter einer unnützen Anhäufung von Worten. Selbst die Zeit zu sterben — sie vor allem — ist seiner Ansicht nach Geld.

Hier muß sich eine tiefe Wahrheit, ja die Wahrheit selber verbergen, denn so irrt man nicht. Wie Dinge gleichen Werts oder gleicher Schwere halten Zeit und Geld einander das Gleichgewicht im Unendlichen. Da der Herr der Welten sich um dreißig Geldstücke verkaufen ließ, war er genau in der Mitte der Zeiten und ihr Inbegriff auf die nachdrücklichste, elementarste und unvorstellbarste Weise …

Darauf deuten, ohne daß er es will oder weiß, die Worte des armen Bürgers hin, die in Wahrheit schrecklicher und gewaltiger sind als entfesselte Orkane.

NON OLET

Es ist doch eine Genugtuung, wenn man sich sagen kann, daß die ruhmbedeckten Flavier nicht weniger habsüchtig und nicht heikler waren als unsere bürgerlichen Zeitgenossen. Vespasian, der wie Vitellius bei jeder Mahlzeit zweitausend Sesterzen verspeisen konnte, fand es nicht unter seiner Würde, den Harn seiner Römer als Einnahmequelle zu benutzen und alles, was die Herren der Welt produzierten, zu Geld zu machen.

Das Beispiel wirkte, und die Spekulanten des zwanzigsten Jahrhunderts ahmen es gerne nach. Nur hat diese Kaiserfamilie Jerusalem zerstört und elf mal hunderttausend Juden den Tod gegeben, indes sich der Bürger mit Israel verbündet zur Verwertung der Latrinenprodukte. Das ist ein Unterschied.

„Zieh mich”, sagt die Geliebte im Hohenlied, „so laufen wir dir nach im Duft deiner Salben.”

ES IST NICHT ALLES GOLD, WAS GLÄNZT

Glanz ist für den Bürger dasselbe wie Politur. Seine Ästhetik ist die eines Stiefelputzers. Auf literarischem Gebiet etwa empfindet er Paul Bourget als „glänzende” Erscheinung oder den Verfasser von „Quo vadis?”, der fast eine Leuchte zu nennen ist. Derlei Urteile trifft man allerdings nur in den obersten Sphären der bürgerlichen Intelligenz an. Auf minder hohem Niveau kann schon eine simple Blutwurst so glänzend erscheinen wie die Ilias. Doch nicht darum handelt sich’s.

Es handelt sich vielmehr um das Gold, nicht um das Gold der Herzen, auch nicht um jenes, aus dem das himmlische Jerusalem erbaut ist, sondern um das Münzgold, das nur wegen seines Geldwerts so kostbar ist. Im Grunde geht es in diesem Gemeinplatz so wie in vielen anderen darum, die nicht mitteilbare Göttlichkeit des Geldes anzudeuten. Das Gold kann matt werden und sein sprichwörtlicher Glanz sodann dem eines Paares blankgewichster Paradestiefel nachstellen. Das Geld selber aber hat Glanz nicht nötig, wie die hellblauen Arschwische beweisen, deren jeder einen Wert von nicht weniger als tausend Franken darstellt.

MAN SOLL NICHT MIT DEM FEUER SPIELEN

Im Buch der Richter wird erzählt, Samson habe einmal dreihundert Füchse gefangen, ihnen Feuerbrände an den Schweif gebunden und sie so in die Kornfelder der Philister gejagt. So spielte der furchtbare Nazarener mit dem Feuer. Manchmal erträume ich mir einen modernen Samson, der dreihundert Bürger mit Feuerbränden am Hintern mitten unter die übrigen jagt.

Ich frage mich trotzdem, ob dieses Spiel so amüsant sein wird, wie es den Anschein hat. Vielleicht wird sogar der auf solche Art entzündete Bürger etwas vom Propheten haben. Denn das Feuer ist sowohl ein Alltagswort als auch eine Realität geheimnisvollster Art, und wenn es verkündigt wird, gleichviel, ob mit leiser Stimme oder mit Sturmgeläut, möchte man glauben, es spiele mit dem Menschen, so sehr schreckt es selbst den kläglichsten Hohlkopf mit der Ahnung der Nähe der Gottheit!

DER LIEBE GOTT

Wer lieber Gott sagt, muß ein schlechtes Gewissen haben. Ich kann mir beim besten Willen keinen Märtyrer vorstellen, der dieses Adjektiv gebraucht. Selbst Zola ruft hie und da beim Grasen seiner Kühe: „Großer Gott!”, wenn eine von ihnen plötzlich lahmt oder die Kolik kriegt. Doch im Mund dieses Gerechten ist das ein frommer Ausruf, der aus der Fülle des Herzens kommt, indes der liebe Gott der gewöhnlichen Leute durchaus nicht andächtig erwähnt wird.

Der liebe Gott des Bürgers ist eine Art Kommis, dem er nicht traut und auf den kein Verlaß ist. Er bezahlt ihn daher schlecht und würde ihn am liebsten entlassen, um ihn allerdings noch am selben Tag zurückzuholen, wenn er ihn braucht. Denn es läßt sich nicht leugnen: der liebe Gott wirkt ungemein dekorativ in den Kaufläden. Das weiß jeder, der im Geschäft ist oder sonst Handel treibt.

Es muß zugestanden werden: der liebe Gott, den der Bürger so selten und ungern hinunterschluckt, ist doch ziemlich gefragt bei der Kundschaft, und da heißt es eben Opfer bringen. Wo immer man hinkommt, ist von ihm die Rede: „Der liebe Gott wird schon helfen … der liebe Gott wird es schon recht machen … der liebe Gott wird wissen, warum… es gibt keinen lieben Gott” usw. Man macht wenig Umstände mit ihm, das ist wahr. Es geht ihm so elend, daß er sich gern mit einer Brotrinde und einem Glas Wasser begnügt und die niedrigsten Dienste verrichtet, ohne am siebenten Tag ruhen zu dürfen. Dabei muß er sich von des Teufels intimsten Spießgesellen hundertmal am Tage vorwerfen lassen, daß er ihrem Herrn und Meister nicht das Wasser reicht.

Und ist es dieser liebe Gott, der Gericht halten wird über die ganze Erde, dann, meine ich, hat der Bürger recht, ihn zu verachten und zu beleidigen. Als der Schlaukopf, der er ist, bereitet er sich so die schönsten Überraschungen und ewig währende Sensationen!

DIE NATUR

Ich erwähne diesen Gemeinplatz, weil er mich an meine Jugend erinnert. Heute liegt er abseits und wird kaum gebraucht. Die Leute sind zu wissenschaftlich geworden. Zu meiner Zeit umfaßte die Natur noch eine Vielfalt von Dingen. „Überlassen wir es der Natur”, sagt man bei jeder Gelegenheit, „lassen wir die Natur wirken.” Jetzt redet man nur noch von Mikroben, und an die Stelle der Natur ist die Injektionsspritze getreten. Vertauschte Idole; mir war das alte lieber. Es war erfreulicher fürs Auge, minder töricht und weit weniger gefährlich. Man verehrte es besonders im achtzehnten Jahrhundert, damals gab es in Frankreich noch ein ausgeprägtes Gefühl für das Lächerliche. Ein Gefühl, das unser Bürger bestimmt verloren hat. Für ihn wäre die Rückkehr zur Natur sicher nicht das Ideal wie zur Zeit Jean Jacques Rousseaus. Eine dunkle Ahnung warnt ihn davor, in naturalibus in seinem Cafe zu erscheinen oder plötzlich als zottiger Urmensch die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich zu lenken; dagegen erträgt und begrüßt er unter anderem die unsauberen und phantastischen Abenteuer der modernen Medizin zum Beispiel.

Die Natur, wie sie der Bürger von heute versteht, wenn dies übelriechende Tier ein Surrogat von Erziehung empfangen hat, ist ein wahrer Ausbund von Eselei und Pedanterie; das Leben ist zu kurz, ihn zu erklären. Alles, was man tun kann, ist, nachzudenken über den andern, ihm wesensgleichen Ausbund, nämlich die Natur des Bürgers selbst. Hier bieten sich unleugbar großartige Aspekte. Vielleicht genügt es, sich des verkehrten Spiegels zu erinnern, von dem ich sprach, worin im Antlitz dieses letzten Herrn der Erde das furchtbare Antlitz Gottes widerstrahlt.

Die Philosophen des a priori, die nicht im Kot wühlten, haben bekanntlich alle seit Golgatha gelehrt, daß die Natur des Menschen vor seinem Fall im Stande der Unschuld und Vollkommenheit war, so daß Tugend und Schönheit eine Heimkehr ins Paradies sind, just das Gegenteil dessen, was in den Viehställen behauptet wird. Was aber soll man von der „Natur”, jener greulichen Legion, denken, die mit Millionen wirrer böser Stimmen frech ihre Repatriierung in die Schweinekoben fordert?

DIE VERNUNFT

„Die Vernunft”, sagte Malebranche, „ist die Weisheit Gottes”, eine Definition, die kaum mit dem übereinstimmen dürfte, was der Geschäftsmann unter Vernunft versteht. Und dennoch, wer kann das wissen? …

Vielerlei ist über die Vernunft gesagt worden, am häufigsten wohl, daß sie dem Glauben widerspricht. Wie der Schauder aller Vernünftigen vor der Zahl dreizehn beweist und ihre einhellige Abneigung, ihre Schmutzgeschäfte am Freitag zu beginnen. Ich habe einen fanatischen Christenfeind gekannt, der am Weihnachtsabend seine Schuhe heimlich vor den Kamin zu stellen pflegte. Sein Logenmeister, der von dieser Schrulle erfuhr, empfahl ihm, sie schlicht und vernünftig hinter die Aborttür zu stellen, was unstreitig den Traditionen der Frei denkerei besser entspricht.

DER ZUFALL

Ein glücklicher Zufall, ein günstiger Zufall, der Zufall hat es gewollt, der Zufall hat es gefügt, man muß es dem Zufall überlassen usw. Der Zufall ist demnach Gott, wie alles zu beweisen scheint, und — dies ist wohl zu beachten — der einzige und letzte Gott, der heute noch von den Dummen verehrt wird, und das will etwas bedeuten! Man muß allerdings zugeben, daß er ein recht komischer Gott ist, nur mit positiver Macht ausgestattet und ohne ein Atom von negativer Macht. Oh, ich weiß, ich drücke mich sehr unklar aus. Zum Glück habe ich den Brief eines Irren bei der Hand, von dem ich hier einen lichtvollen Auszug biete:

„Wie Sie wissen, werter Herr, habe ich mein ganzes Leben dem Zufall überlassen; einem, der weiß, daß er sein Dasein und seinen Unterhalt dem Zufall verdankt, bleibt kaum etwas anderes über … ‘Der Elefant begrüßt ihn bei Sonnenaufgang’, wie Chateaubriand gesagt hat. Schon in frühester Jugend gab ich meine Unschuld dem Spiel des Zufalls preis, und daß ich sie so auf eine erbauliche und sinnreiche Art verlor, wird niemand wundernehmen. Ich habe immer gelebt, gedacht, gehandelt und geliebt, wie es der Zufall wollte.

Mein Vermögen betrachtete ich als Hindernis, ich eilte daher, es dem Zufall im Glücksspiel zu opfern. Als freier Mann lernte ich dann das Glück kennen, nach Zufall zu essen und zu schlafen. Anders als die meisten Menschen, denen der religiöse Sinn abhanden gekommen ist und die raten, nicht alles dem Zufall zu überlassen, habe ich nichts für mich behalten. Ich brauche wohl kaum hinzuzufügen, daß ich auch Frau und Kinder einzig dem Zufall verdanke.

Und doch muß ich nach alldem bekennen, daß ich nicht zufrieden bin. Dem Gott, den ich verehre, fehlt der Dekalog und der Sinai. Der Zufall hat keine Gebote. Er kann alles, aber er verhindert nichts und verbietet nichts. Niemand fällt es ein zu sagen: Der Zufall hat es nicht gewollt, der Zufall hat es nicht gefügt, der Zufall ist dagegen, der Zufall hat es bestraft; es klingt nicht. Es gibt da keine Übertretungen, keine Sünde. Solange man in Saus und Braus dahinlebt, hat das seine Reize, ich will es nicht leugnen, aber auf die Dauer geht es einem auf die Nerven …”

Ich muß hier die Wiedergabe des Briefes abbrechen, da er unvermittelt in eine verblüffende Schamlosigkeit verfällt, ohne daß man sagen kann, warum. Mir ist nur der Schluß im Gedächtnis geblieben, der sich auf den Bürger zu beziehen scheint, freilich auf recht unklare Art. Er lautet: „Oh, die Schweine, die Schweine, die Schweine!”

DAS FINSTERE MITTELALTER

Ehedem, es ist kaum fünfzig Jahre her, gehörte die Finsternis des Mittelalters zum eisernen Bestand der Lehrbücher und war Prüfungsgegenstand. Kein jugendlicher Bürger hätte es wagen dürfen, an der Tiefe dieser Finsternis zu zweifeln.

Heute schwärmt die bürgerliche Gesellschaft für das Mittelalterliche, ein Erfolg der Propaganda des industriellen Kunstgewerbes. Es gibt nun Butzenscheiben, Chorgestühl, Kommoden, Wandteppiche, Truhen, Fayencen und Schmiedeeisen. Alles ohne Schutt und schmerzlos. Jeder Branchenkundige muß, wenn er kein Tölpel ist, eine stilechte Garnitur innerhalb vierundzwanzig Stunden improvisieren können. Von nun an wetteifern die Lampen-und Kleidermacher mit den Künstlern.

Es ist wahr, daß trotz der Gaslaternen die berühmte Finsternis nicht gewichen ist. Man schätzt die Kunst, wohlverstanden, diese Art Kunst, weil sie das Geschäft und den Handel belebt. Sonst aber läßt sich die Finsternis doch wohl nicht wegdenken aus einem Zeitalter, in dem jedermann an Gott glaubte.

MAN DARF DIE DINGE NICHT ZU SCHWARZ SEHEN

Etwas, ziemlich, sehr sogar, wenn Sie wollen, doch nicht zu sehr. Immer mit Maß, Sie verstehen mich. Klugheit und Takt würden eher raten, sie rosenrot oder lilienweiß zu sehen.

Dies wenigstens ist die Ansicht des ersten Mannes im Staat, der durchaus dagegen ist, daß die Sterbenden erfahren, wie es mit ihnen steht, „auch wenn sie es wünschen”. Er ist absolut dagegen. Die Ohnmacht erscheint ihm humaner als die Vorbereitung auf das Sterben, besonders empört ihn „die barbarische Sitte” der Letzten Ölung.

Ich lese das alles im Journal, übrigens ein hierfür passendes Blatt, da es für ein Publikum bestimmt ist, das sich glück-1 ich von den „grausamen Forderungen des Glaubens” befreit hat. Das Staatsoberhaupt redet bei dieser Gelegenheit viel vom Mitleid. Seine letzte Phrase verdient hierhergesetzt zu werden, denn sie läßt den Beistand der Krokodile und Affen ihnen, mit dem das endgültig befreite Gewissen des zwanzigsten Jahrhunderts die Sterbenden beglücken wird.

„Lassen wir Barmherzigkeit, Güte und Mitleid auch dann walten, wenn dem Kranken die Anzeichen des nahenden Todes zu verbergen sind. Denken wir daran, daß es hier nicht so sehr um aufopfernde Pflege als um wohltätige Hilfe gehen soll, die unnötige Schmerzen und überflüssigen Gram vermeidet.”

Offensichtlich wird, „da die Sorge um das Seelenheil zurücktritt”, diese Hilfe schließlich darin bestehen, die Kranken möglichst schnell ins Jenseits zu befördern, da man ihnen so am sichersten Schrecken und Schmerzen erspart. Die alte Welt kannte das schon Jahrhunderte vor der christlichen Ära.

Um nur von der Hilfe zu reden, durch die dem Sterbenden noch Hoffnung auf Genesung gemacht wird, weiß das Staatsoberhaupt, wie häufig sie erteilt wird und warum? Jeder Pfarrer könnte ihn darüber aufklären, daß die meisten Bürger ohne Beichte sterben, weil sie sonst widerrechtlichen Besitz herausgeben müßten. Die Familie, voll Angst, eine Schwindler-und Banditenexistenz könne solch ein Ende

nehmen, wacht sorgsam darüber, daß der Sterbende „die Dinge nicht zu schwarz sieht”. Man holt den Priester erst, wenn sein Amt sinnlos geworden ist, und die schändlichste Lüge gilt da als erlaubt.

Ich möchte gern wissen, wem sich in diesem Fall das Mitleid des Staatsoberhauptes zuwendet, denn es sind drei Teile in gleicher Weise der Rücksicht würdig: der Sterbende, seine Erben und die von ihm Bestohlenen. Eine Entscheidung läßt sich nicht umgehen. Verhehlt man dem Dieb die Nähe seines Endes, wird er kaum an eine Sühne denken. Wahrscheinlich auch nicht, wenn er die Wahrheit erfährt und ungeachtet der Ermahnungen des Priesters, doch besteht eine Möglichkeit. Eine teuflische Angelegenheit, hier ist das Wort am Platze. Noch einmal: Wem soll das Mitleid des Staatsoberhauptes zugute kommen?

Ich habe anderswo auf die beständigen Berichtigungen hingewiesen, die der Bürger an der Heiligen Schrift vornimmt. Hier, an seinem Sterbebett, muß ich an den reichen Jüngling aus dem Evangelium denken, der, als er Jesus fragte, was er tun müsse, um das ewige Leben zu erlangen, die Antwort erhielt, er müsse all sein Gut den Armen geben, und hierauf traurig wegging. Abiit tristis.

Nachschrift. Das Evangelium sagt nicht sehr traurig, „nimis tristis”, sondern nur traurig, ohne Übertreibung. Der Bürger ist imstande, auf das ewige Leben zu verzichten. Das ist sein Unterscheidungsmerkmal.

AUCH DAS UNGLÜCK HAT SEIN GUTES

Das Unglück der andern, wie sich versteht. Ja, nur dieses. Es ist schwer vorstellbar, daß einem das Glück eines Nachbars Vorteil bringen könne. Des einen Brot ist des andern Tod, sagt ein dem obigen verwandter Gemeinplatz.

Ihr bester Freund hat unverhofft eine Erbschaft von mehreren hundert Millionen Franken gemacht. Wahrscheinlich fällt davon für Sie kein Centime ab. Vielleicht wird Ihr Freund Sie sogar zu schädigen trachten, denn Ihr seid eines Geistes Kinder.

Unbestreitbar gut dagegen ist, seinen Nächsten leiden zu sehen, zu wissen, daß er leidet. Das ist nicht nur an sich gut, sondern gut auch in den Auswirkungen, denn ein Mensch, der auf dem Boden liegt, ist ein Mensch, der verspeist werden kann. Und bekanntlich gibt es kein schmackhafteres Fleisch, selbst Schweinefleisch reicht nicht heran.

DIE GESUNDHEIT AN ERSTER STELLE

Was, noch vor dem Geld? Gewiß, mein Kind, an die allererste Stelle. Geh schonend um mit deinem Fleisch, es ist das kostbarste, was du hast, und absolut unersetzlich. Erhalte es dir möglichst lang und genieße in vollen Zügen. Schmiede das Eisen, solange es glüht, denn das Leben ist kurz. Laß die Pfarrer vom ewigen Leben reden, was sie wollen, glaube meiner alten Erfahrung, Haben ist besser als Kriegen, und es ist angenehmer, die Köchin zu bezahlen als den Apotheker. Das Geld, das du für dein leibliches Wohl aufwendest, ist nicht hinausgeworfen, im Gegenteil. Es gibt Augenblicke, wo man es ruhen lassen muß. Man wird es bei der Kundschaft um so besser hereinkriegen.

Napoleon hat gesagt, die Gesundheit sei unerläßlich für einen General. Nun, ist vielleicht das Geschäftsleben etwas anderes als ein Krieg? Wer den Fuß in unseren Laden setzt, ist ein Feind. „Der Kunde, das ist der Feind!” hat Gambetta gesagt, merke dir das, mein Sohn. Das richtige Geschäft, das man verstehen muß, das einem Vermögen und Ansehen schafft, besteht darin, um zwanzig Franken zu verkaufen, was fünfzig Centimes gekostet hat, wie es die achtbarsten Apotheker täglich tun. Sie haben es leicht, das ist wahr, weil der Laie von ihrer Ware nichts versteht. Es ist der Idealfall.

Was zum Beispiel den Lebensmittelhandel betrifft, so weißt du so gut wie ich, daß das erste Gebot, das Abc des Geschäfts darin besteht, nur Schund abzusetzen; das Abwiegen hat, wie ich wohl nicht erst zu sagen brauche, immer im finsteren Winkel stattzufinden und mit höchster Geschwindigkeit, damit der Kunde unter keinen Umständen das erhält, was er kauft, weder nach Quantität noch Qualität.

Ich habe früher bei dem berühmten Gibier gearbeitet, der allgemein als der Masséna und Cambronne des Detailhandels bekannt ist. Mein Leben lang werde ich mich der heroischen Physiognomie und majestätischen Schlichtheit dieses erlauchten Greises erinnern, als er zu uns sagte:

„Ihr müßt wissen, Freunde, daß ich nie anderes als Dreck verkauft habe! Und immer falsch gewogen, besonders armen Leuten, die daheim keine Waage hatten. Bezüglich des Geldherausgebens darf ich mir das Zeugnis ausstellen, daß ich schlechte Münzen immer losgeworden bin. Sogar Hosen-knöpfe, wenn es hart auf hart ging. Doch dazu gehört vor allem Gesundheit, eiserne Gesundheit, denn da heißt’s immer auf dem Damm sein, sich keinen Tag Ruhe gönnen und den kleinsten Profit nicht verachten, auch wenn man schon fünfzig Millionen im trocknen hat.”

Laß dir diese goldenen Worte durch den Kopf gehen, mein teures Kind, und nochmals: pflege deinen Kadaver. Die Gesundheit an erster Stelle.

GOTT WIRKT KEINE WUNDER MEHR

Womit auf verbindliche, nette und quasi fromme Art gesagt werden soll, daß er nie welche gewirkt hat. Der Lieblings-gemeinplatz des Abbe Pucelle und unzähliger anderer aus dem Geistlichen-und Laienstand.

Eines Tages, es ist etwa zehn Jahre her, wurde ich einem Herrn vorgestellt, der, kaum nachdem er meinen Namen gehört hatte, es sofort unternahm, mich in Staunen zu setzen, und mir erklärte, er halte es für kindisch, irgend Großes oder auch nur Ungewöhnliches zu erwarten oder zu erhoffen.

„Ich jedenfalls”, fügte er hinzu, „muß sagen, daß mir dergleichen nie widerfahren ist.”

Die bodenlose Dummheit dieser Bemerkung brachte mich einen Augenblick lang außer Fassung, dann erhob ich sanftmütig den folgenden Einwand:

„Sie müssen, werter Herr, entweder äußerst unaufmerksam oder äußerst undankbar sein, da Sie, um mir das zu sagen, just den Moment wählen, wo Ihnen etwas Unerhörtes widerfährt, das Sie niemals ahnen oder erhoffen konnten.”

„Und was ist das?” fragte der Mann verblüfft. „Die Ehre, mir zu begegnen”, antwortete ich schlicht, und wandte dem Schwachkopf den Rücken.

ICH MÖCHTE RUHIG SCHLAFEN

So lautete das letzte Wort der Hausbesitzerin. Die Zeit der Kämpfe war für sie vorüber. Sie war in das Alter gekommen, wo man ruhig schlafen will. Sie brauchte solide Mieter und feste Garantien.

„Sie haben sehr recht, gnädige Frau”, erwiderte der Besucher, der Zeit gehabt hatte, etwas Umschau zu halten, „soweit es auf mich ankommt, sollen Sie ruhig schlafen.”

Frau Mouton war eine greuliche Alte, die, wenn es kalt war, sich an ihrem Geld wärmte. Es hieß, sie sei steinreich, und ihr Geiz durfte selbst in diesem fürchterlichen kleinbürgerlichen Milieu als ein Kuriosum gelten.

Der „selige” Mouton hatte sich durch ein patentiertes Verfahren zur Verwertung verseuchter Milch, das in der Erhöhung der Kindersterblichkeit unerreicht war, ein Vermögen erwirtschaftet. Rechtzeitig den Zärtlichkeiten seiner Gemahlin entrissen, erwartete er sie in einem prunkvollen Mausoleum von seltener Häßlichkeit. Es war über dem bizarren Portal dieser Gruft, daß ich zu meinem Schrecken die Worte aus dem Evangelium las: Klopfet an, und es wird euch auf getan werden…

Eine Aufschrift, die am Hause der Witwe nicht hätte stehen können. Erst nach mehrmaligem Sturmläuten sah man ein schmales Guckfenster langsam sich öffnen und in dessen Rahmen ein phantastisches Bild erscheinen. Nebeneinander zeigten sich das abscheuliche Gesicht der Alten und der grimme Kopf einer riesigen dänischen Dogge, die ihre Vorderpfoten auf die Schulter ihrer Herrin gelegt hatte. Die Frau fuhr dann den Ankömmling mit der barschen Stimme eines Gendarmen an, in der sich ebensoviel Haß wie Furcht verriet. Stand ein Armer vor der Tür, wurde das Guckfenster mit einem lästerlichen Fluch geschlossen. Nur als präsumtiver Mieter und mit gewissen Referenzen versehen, überschritt man die Schwelle. Man durchquerte einen Hof und ein Stück Garten und befand sich endlich, von Frau Mouton und ihrem Hund begleitet, vor einem düsteren Pavillon.

Dieser Pavillon lastete auf der Hausbesitzerin. Sie hatte für ihn keinerlei Verwendung, und diese Unverwertbarkeit brachte sie zur Verzweiflung. Anderseits konnte sie sich aber auch nicht entschließen, einen Mieter zu nehmen, was immer für Garantien er bieten mochte. Es war ebenso schwierig für sie wie die Wahl eines Liebhabers für eine anständige Frau. Sie hatte sich niemals entscheiden können.

Die Wahrheit war, daß sie schreckliche Angst hatte, einen Fremden so nahe bei sich einzuquartieren. Sie war der klassische Typ des Geizigen, der das Metall anbetet, es mit Inbrunst küßt und darunter leidet, es nicht verzehren zu können, wie der Christ seinen Gott verzehrt im Sakrament der Eucharistie. Am Abend hörte man sie eine Viertelstunde lang die Türen versperren und verriegeln, und es hieß, sie lege ich erst nieder, nachdem sie mit ihrem Hund alle Winkel durchstöbert hatte.

Derartige Vorsichtsmaßregeln rufen die Katastrophen herbei, so daß niemand staunte, als man erfuhr, Frau Mouton sei erstochen und mit fast abgetrenntem Kopf in ihrem Haus aufgefunden worden. Da sie ihre Nachbarschaft an die sonderbarsten Schrullen gewöhnt hatte und kein menschliches Wesen ihre Schwelle betreten durfte, entdeckte man das Verbrechen sehr spät, als sich Aasgeruch spürbar machte. Man fand sie in einem finsteren Zimmer auf dem Boden hingestreckt, an der Seite des Molosserhundes, beide schon halb verwest.

Das Geld war zur Gänze fortgeschafft, und der Mörder, sicherlich ein Künstler, hatte auf dem Tisch ein feines Blatt Ministerpapier zurückgelassen, auf dem, mit fester Hand hingeschrieben, der Refrain eines bekannten Schlummerliedchens zu lesen war:

Schlafe, schlafe, meine Schöne, Schlaf du nur immerzu.

ICH WILL NICHT STERBEN WIE EIN HUND

Man darf sowohl sich wie anderen die Frage vorlegen, weshalb ein Mensch, der wie ein Schwein gelebt hat, nicht wie ein Hund sterben will.

Zunächst: Was heißt denn überhaupt sterben wie ein Hund? Es heißt bekanntlich, diese angenehme Welt ohne Empfang der Sakramente verlassen und sich ohne Federlesen und religiöse Zeremonien auf dem Friedhof verscharren lassen. Der Bürger, der nicht wie ein Hund sterben will, muß also den Priester, wenn möglich den Ortspfarrer, holen, sich mit ihm über die Einkommensteuer unterhalten, über die Intensivierung des Kartoffelanbaus, über Gebißschäden bei Nilpferden oder über die Schulreform bei den Kamtscha-dalen; durch diesen christlichen Glaubens-und Bekenntnisakt erwirbt man das Recht, nach seinem Tod in die Kirche und sodann in Begleitung eines Chorrocks auf den Friedhof getragen zu werden, falls die Familie die Spesen nicht scheut.

All das, ich brauche es wohl nicht erst zu sagen, ist fürs Auge bestimmt. Man stirbt für die Galerie, wenn man nicht wie ein Hund stirbt. Ob Sie es verstehen oder nicht: es geht einzig darum. „Ich kümmere mich nicht um Religion”, sagt der Samenhändler, „aber ich will nicht sterben wie ein Hund.”

Das Ansehen der Firma könnte darunter leiden, falls ihre Kunden zu den Wohlgesinnten gehören. Gehören sie nicht dazu, würde das Firmeninteresse das Gegenteil gebieten, nämlich: zu sterben wie ein Hund; ein seltener Fall in den Kreisen, wo man sich’s gut gehen läßt.

ES IST NICHT ALLES ROSIG IM LEBEN

Möchte der Bürger wirklich alles rosig in dem, was er Leben nennt, oder ist dieser Gemeinplatz nur die harmlose billige Feststellung eines Farbenfabrikanten?

Ich neige sehr zur ersten Hypothese. Der Bürger braucht das Rosige, es ist seine Leib-und Lieblingsfarbe. Rosenfarben kleiden sich seine Töchter und seine Gemahlin bis ins sechigste Jahr. Und auch er ist rosig und munter wie ein Ferkelchen, solang seine Geschäfte gut gehen. Er möchte alles rosig sehen und auf Rosen gebettet sein. Er allein spricht nach so vielen Dichtern noch zuweilen von der „rosenfingerigen Morgenröte”, und man muß gerechterweise zugeben, daß, ohne ihn, schon lange niemand mehr die stets neue und ewig reizvolle Bemerkung machte, keine Rose sei ohne Dornen.

Ein für Kobaltblau oder Dottergelb schwärmender Bürger wäre ein Außenseiter, ein Parvenü. Der echte, unverfälschte, regelrechte und wohlgeborene Bürger duldet nur seufzend das Schwarz des Todes. Wie viele gibt es, die Kinder vergiften und Greise verhungern lassen und nach ihrem eigenen Abscheiden so gern in einem rosa Sarg inmitten einer rosa ausgeschlagenen Kirche aufgebahrt werden wollten, umgeben von Leidtragenden in rosa Trauerkleidung, während eine Orgel den Rosenwalzer spielte! …

In einem der großen Pariser Friedhöfe ist die Gruft eines reichen Fleischgroßhändlers zu sehen, der die Spitäler mit Aas versorgte und dabei nicht weniger als dreihundert Prozent verdiente. Das war ein Mann von zarter Phantasie. Uber seinem faulenden Kadaver prangt ein Korb mit den herrlichsten Rosen und auf dem Marmor stehen die Worte: „Er hat sie so geliebt!”

DER APPETIT KOMMT BEIM ESSEN

Eine gute Antwort, die man einem Verhungernden geben könnte:

„Unglücklicher, Sie wissen nicht, was Sie verlangen. Wenn Sie einmal zu essen anfangen, dann werden Sie immer fortessen wollen und den anständigen Leuten mehr und mehr zur Last fallen, es gelänge nicht, Sie zu sättigen, auch wenn man sich dabei zugrunde richtete. Wer nicht in der Lage ist, nach seinem Appetit zu essen, muß mit seinem Hunger zufrieden sein; und um zehn Uhr abends bettelt man nicht. Ich würde es direkt für ein Verbrechen halten, Ihnen einen Groschen zu schenken.”

Szenerie: ein verschneiter Platz. Der Sprechende ist ein beleibter Mann mit stark gerötetem Gesicht, der eine üppige Mahlzeit hinter sich hat. Er ist eben aus dem Restaurant getreten und wartet auf seinen Wagen, der in einer eleganten finanziellen Kurve auf ihn zufährt.

Der Hungernde ist das Leid, gleichviel welches, das Leid aller Jahrhunderte. Der Nutznießer des Hungers ist das Symbol der Verzweiflung, nichts weiter, der aufgeblähten, triumphierenden Verzweiflung.

GELEGENHEIT MACHT DIEBE

Sol cognovit occasum suum. — „Bist du es Herr? Bist du es endlich?” fragt der Schacher am Kreuz. „Wahrlich, ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein”, antwortete der Gekreuzigte.

Dies geschieht in der Finsternis der sechsten Stunde, und der Bürger hat sich erhängt, als es noch Tag war.

Nachschrift. — Ich wollte Gelegenheit zu einer endlosen Scheltrede finden, um festzustellen, daß der Bürger nur Geld hat, das er zurückgeben muß, und daß er, wenn er es nicht zurückgibt, ein Dieb und Schacher ist, ohne Kreuz und ohne Paradies. Judas, weniger niederträchtig, hat das seine zurückgegeben, bevor er Schluß machte. Aber versuche einer diese Dinge begreiflich zu machen!

WÄHLE VON ZWEI ÜBELN DAS KLEINERE

Hierüber herrscht Klarheit. Die mitleidigsten Seelen können sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß das Übel des Nächsten immer das kleinere ist und folglich gewählt werden muß. Schon seit langem ist den Psychologen aufgefallen, daß man immer genug Kraft hat, das Leid der andern zu ertragen.

MAN TUT, WAS MAN KANN

Hat man Kinder gezeugt und sich einen Namen gemacht, hat man getan, was man konnte, und ich sehe nicht, was Gott selber noch darüber hinaus verlangen sollte. Die berühmten Gebote vom Berg Sinai sind nur Beiwerk und Zimmerschmuck. Das Solide und Gewisse ist anderswo zu suchen.

„Ich war”, berichtete die selige Angela von Foligno, „einst versenkt in eine Betrachtung des Todes des Sohnes Gottes … Da vernahm ich in meiner Seele die Worte: ‘Nicht zum Spaß habe ich dich geliebt!’ Es war, als träfe mich ein tödlicher Streich, und ich weiß nicht, wie ich es ertrug … Andere Worte wurden vernehmlich, die meine Leiden erhöhten: Nicht zum Spaß habe ich dich geliebt, nicht zum Possenspiel habe ich mich zu deinem Diener gemacht, nicht von ferne habe ich dich berührt!’”

Bei diesem letzten Wort springt der Bürger auf, der wahre, der ewige Bürger, der Mörder von Anfang an, und protestiert:

„Du willst mich berührt haben! Du wagst zu sagen, du habest mich berührt, vielleicht mit deinen durchbohrten Händen und Füßen, deinem blutigen Antlitz und blutigen Schweiß und dem Geheul der Judenmenge und den Wundmalen deiner langen Geißelung! Du mich berühren! Armer Menschensohn, armer Herrgott der alten Zeit! Bist du auch nur ein Hundertsoustück, um auf mich Eindruck zu machen? Du hast nichts übrig für Spaß, und deine Selige versteht auch keinen Spaß. Ich dagegen bin ein fröhlicher Bursche, ein lustiger Bruder und kann weder deine Tränen noch dein Blut brauchen. Ich bin auf der Welt zum Geschäftemachen und zum Vergnügen und verstehe nichts von Bußübungen und Ekstasen. Man tut, was man kann und ist kein Spielverderber.”

Nachschrift: „Ich habe gehungert”, wird dereinst der Richter sagen, „und ihr habt mich nicht gespeist; ich habe gedurstet, und ihr habt mich nicht getränkt…” „Das ist alles sehr gut und schön”, werden die Fleischselcher im Chor antworten, „aber die Fastenzeit bereitet uns schweren Schaden.”

MAN …

Was ist dieses Man für den Bürger tatsächlich? Ist dieses von ihm beständig angerufene Abstraktum vielleicht der unbekannte Gott? Man kennt diesen Menschen nicht, Man liebt ihn nicht, Man hat ihn niemals gesehen, Man hat ihn oft genug gesehen. Gibt es treffendere, wirksamere Verdammungsurteile? Dieses Man vernichtet und belebt. Man kennt Sie gut, Man weiß, wer Sie sind, Man räumt Ihnen Kredit ein.

Jedesmal, wenn der Bürger spricht, klingt dieses geheimnisvolle Man, als würde ein Geldsack schwer auf den Boden gestellt in einem Nachbarzimmer, wo jemand umgebracht wurde.

ALLES ODER NICHTS

Alles, wenn es gilt zu verweigern. Nichts, wenn es gilt zu geben. So lautet das große Ur- und Grundgesetz. In der Anwendung mildert es sich je nach den Umständen, deren es eine Unzahl gibt. Manchmal muß sogar alles gegeben werden. So geschah es 1870, als der Bürger die preußischen Bajonette im Hintern hatte. Doch das Prinzip bleibt.

AUF GLÜHENDEN KOHLEN

Eine böse Sache, die man nicht, wie ein anderer Gemeinplatz sagt, auf dem Hals, sondern unter den Füßen oder unterm Gesäß hat, wenn ich so sagen darf. Nicht jeder hat das heitere Gemüt des heiligen Laurentius, als er auf dem Rost lag, auf dem glücklicherweise kein Bürger Platz fände.

Man ist auf glühenden Kohlen, wenn man auf den Geldbriefträger wartet; wenn man sich auf Ohrfeigen gefaßt machen muß und seine eiserne Maske vergessen hat; wenn einen die Freundin mit Ungeduld erwartet und der letzte Wagen davongefahren ist; wenn man um zehn Uhr auf dem Bahnhof ist und der Zug erst um Mitternacht abfährt; wenn der gefürchtete Ehemann die Treppe heraufkommt und man nicht gleich in die Hosen findet oder den Hut verlegt hat und noch nicht weiß, durch welches Loch man entwischen wird; wenn man einen ehrsamen Beruf ausübt und tagsüber mehrmals an der Gendarmerie vorbei muß usw. usw.

Es gibt Leute, die ihr ganzes Leben lang auf glühenden Kohlen stehen und für Spaß nichts mehr übrig haben. Andere wieder vergnügen sich damit, boshafterweise die glühenden Kohlen, auf denen ihre Mitmenschen stehen oder sitzen, noch stärker in Glut zu bringen, obwohl sie selber Butter auf dem Kopf haben, so daß Verdruß und Elend in diesem Leben kein Ende nehmen.

„Wenn dein Feind hungert”, sagt die Heilige Schrift, „gib ihm zu essen; wenn er dürstet, gib ihm zu trinken; so häufst du glühende Kohlen auf seinem Haupt.” Das tut der Bürger nicht. Er behält seine glühenden Kohlen selber und läßt seine besten Freunde verhungern und verdursten.

MAN HAT VERPFLICHTUNGEN

Man hat Verpflichtungen, wenn man Angehörige erhalten muß: eine Frau, Kinder, eine Schwiegermutter, alte Eltern, die nicht sterben wollen und die man doch nicht zum Schinder schicken kann, denn was würden die Nachbarn sagen? Gewiß, es gibt Versorgungs-und Altersheime, die schließlich nicht für die Hunde da sind, aber wie sie in Anspruch nehmen, wenn man als Magistratsbeamter, als Notar oder Börsenmakler seine Verpflichtungen hat? Man ist dann der Märtyrer seiner Verpflichtungen und ruft täglich Himmel und Erde zu Zeugen seiner Leiden an.

Selbst Reichtum und Wohlstand vermögen daran nichts zu ändern. Wer auch nur einige Lebenserfahrung hat, weiß: je reicher man ist, um so drückender sind die Verpflichtungen, da einem die Vorwände fehlen, sich über sie zu beklagen, und wer nicht ganz taub-und fühllos ist, kann das herzzerreißende Jammern der Reichen in dieser Hinsicht nicht überhören.

Zum Glück aber heilt die Lanze Achills die Wunden, die sie geschlagen hat. Ist man mehrfacher Millionär und hat dabei erdrückende Verpflichtungen, etwa einen Unterhaltsbeitrag von täglich zwei Franken für eine alte Mutter, dann hat man ein wunderbares Mittel bei der Hand, lästige Bittsteller abzuweisen. Man sagt: „Ich habe Verpflichtungen!” Man erspart sich dadurch nicht nur unnütze Ausgaben, sondern parfümiert zugleich sein Gewissen.

SEINEN WEG MACHEN

Hat nichts gemeinsam mit dem Werk der Frömmigkeit, das darin besteht, seinen Kreuzweg zu gehen. Vielmehr empfiehlt es sich, Kreuzwege zu vermeiden, wenn man möglichst rasch seinen Weg machen will. Man muß sich darüber klar sein, daß das Betreten des Kreuzweges ein entschiedenes Hindernis bildet, büßt man doch die Elastizität ein, die man braucht, um seinen Weg zu machen.

Doch es gibt mancherlei Wege, obwohl sie, wie man sagt, alle nach Rom führen. Es gibt samtweiche und steinige. Einige gehen nach oben, andere nach unten. Es gibt den breiten Weg und den schmalen. Ferner den Richtweg, der manchmal der kürzeste ist und den gewöhnlich die Wanderer einschlagen, die nicht ins Gefängnis kommen wollen. Man hat allerdings beobachtet, daß dort auch oft das Rad des Schicksals rollt. Da heißt’s denn aufpassen, damit man nicht in die gefährlichen Furchen stürzt, die dieses Rad pflügt, denn es ist ein gewichtiges Rad.

Auch ist ratsam, den Armen und Kranken gegenüber, denen man vielleicht begegnet, seine Ellbogen zu gebrauchen, vor allem aber darf man sich von niemand überholen lassen. Alle, die ihren Weg gemacht haben, werden bekennen, daß es Situationen gibt, wo man nicht davor zurückschrecken darf, Leute, die es zu eilig haben, auf die eine oder andere Art aus dem Wege zu räumen. Am besten geschieht dies, indem man über sie hinwegsteigt, nachdem man ihnen die Gurgel abgeschnitten hat.

Der Weg, den man niemals einschlagen darf, ist der über den Kalvarienberg ins Paradies führende, der nur von Liehenden und Leidenden beschritten wird.

GANZE ARBEIT TUN

Brief eines zum Tode Verurteilten am Vorabend seiner Hinrichtung:

„Lieber Freund, ich werde morgen in aller Frühe guillotiniert. Im Grunde hätte ich es ja lieber, diese Operation fände nicht statt, da meine Gesundheit nichts zu wünschen übrig läßt, doch anscheinend ist mein Fall hoffnungslos.

Ich habe in meinem Leben dem Grundsatz gehuldigt, immer ganze Arbeit zu tun. Es war das große Leitmotiv meines Daseins, und morgen wird das in noch höherem Maße geschehen, da man mir den Kopf abschlägt für all die, die ihre Arbeit schlecht oder halb tun und deshalb in der Kloake ihres Gewissens verrotten. Du glaubst vielleicht wie die Herren Geschworenen, ich hätte mich damit begnügen können, einige Bürger umzubringen, statt eine Masse ins Jenseits zu befördern, aber ich habe mir nie Schranken setzen lassen und wollte ganze Arbeit tun.

Wenn ein Lebensmittel-oder Delikatessenhändler seine Tochter verheiratet, kann er sich mit einem Hochzeitsmahl begnügen, in dem die Abfälle aus seinem Laden oder einigen anderen Läden ökonomisch verwertet werden. Er kann desgleichen die zu seinen Gunsten aufgerundete Rechnung dem jungen Ehemann just in dem Augenblick präsentieren, wo dieser in seinem Glücks-und Freudenrausch unfähig ist, sie nachzuprüfen. Doch damit nicht genug, er will ganze Arbeit tun, er will dafür gelobt und geehrt werden. Natürlich täuscht er sich, denn die Gäste halten ihn im Gegenteil für einen Idioten. Nur wer die ganze Hochzeitsgesellschaft per Blutbad ausgerottet hätte ohne Rücksicht auf Kosten und Spesen, nur der hätte in Wahrheit ganze Arbeit getan.

Dieser Mann wollte ich sein. Man hat mich für einen Anarchisten gehalten, für das Mitglied ich weiß nicht welcher Bande, indes ich ein einsamer versonnener Träumer bin, ein Feind des Ungeziefers, und immer bereit, es zu bekämpfen. Man sieht noch nicht ein, daß dies Ungeziefer der Bürger ist, daß er nicht zur Menschheit gehört, und daß die nach Gottes Ebenbild geschaffenen Wesen das Recht und die Pflicht haben, ihn auszutilgen mit allen erdenklichen Mitteln. Man wird das erst einsehen, wenn vor dem Pesthauch des Misthaufens der Besitzer und Geschäftsleute die Adler erstickt aus der Höhe fallen am großen Abend der vorausgesagten Weltkatastrophen.

Man kann nicht Künstler sein, das heißt Zeuge des höheren Lebens, ohne täglich einen Haufen Bürger zu vertilgen, sei es auch nur durch den Wunsch, durch das Verlangen nach dem Glanz, den sie verdunkeln. Je größer die Liebe des Künstlers, um so heftiger wird dies Verlangen sein. Dichter wie Verlaine, Villiers de I’Isle-Adam, Baudelaire haben so Millionen hingeschlachtet vor Gottes Thron, und mich guillotiniert man, weil ich sichtbarer Arm war.

Ich muß mich damit abfinden und bedauere nur, daß ich so wenig Zeit hatte, den Baum des Lebens von seinen Schmarotzern zu befreien. Wenn mein Kopf fällt, wird aus mir der schöne Purpur quellen, der Festteppich für die Füße dessen, der da kommen soll am Ende der Tage, um in Wahrheit ganze Arbeit zu tun als der alleinige Richter und Schiedsmann für die gerechte Verteilung der Aureolen und Sühnen.”

IN SEINEM KREISLE DAS GUTE TUN

Hängt zunächst vom Umfang dieses Kreises ab. Je geringer er ist, um so mehr tut man sich selbst zugute. Das bedarf wohl keines Beweises. Aber was ist unter dem Guten selbst zu verstehen?

Handelt es sich prosaisch darum, den Armen zu Hilfe zu kommen, was den bürgerlichen Wirtschaftsgrundsätzen widerspricht, taucht die Frage auf, wie weit ich, in meinem Kreis, die Überreste und Abfälle zu werfen habe, damit sie sie rechtzeitig auflesen, ehe ihnen die Schweine und streunenden Hunde zuvorkommen. Denn von Geldgeschenken kann natürlich nicht die Rede sein, es wäre sinnlose Verschwendung und Verleitung zur Liederlichkeit, auch nicht von Brot-oder Fleischspenden, die nur Verdauungsbeschwerden und Schlaflosigkeit zur Folge hätten.

Auch hat man darauf zu achten, daß niemand gedemütigt und daß der Abstand gewahrt wird. Soll ich, wenn ich eine alte Hose weggebe oder ein seit fünfunddreißig Jahren unbenutztes Paar Schlappen, sie eigenhändig überreichen? Ich würde in diesem Fall auf die Straße müssen und dabei riskieren, allerlei Ungeziefer aufzulesen und von anderem Bettelvolk um weitere Liebesgaben angegangen zu werden.

Ich würde überdies bei diesem Wohltätigkeitsakt gegen eine wesentliche Vorschrift verstoßen. Meine linke Hand würde notwendig sehen, was meine rechte tut, und umgekehrt. Es wäre äußerst peinlich.

Soll anderseits etwas für das Seelenheil getan werden, wie man zu sagen pflegt, so könnte ich mich zwar als lehrreiches und erhebendes Beispiel anführen, leider sehe ich in meinem Kreis keine Seele, nicht eine einzige! Ich habe bei meinesgleichen nie so etwas wie eine Seele bemerkt. Ich kann nur begreifen, was ich sehe. Das Wort Seele hat für mich keinen Sinn. Wenn ich es ausspreche, geschieht mir etwas Unerklärbares, ich fühle mich verlassen und leer … schrecklich verlassen und leer! …

SEIN BESTES TUN

Zum Glück gibt es diesen Ausweg: sein Bestes tun. Es ist die Zufluchtsstätte, die Rettungsinsel und der Regenschirm des Gewissens, wenn ich mich so ausdrücken darf. Wenn man gar nichts tun kann, tut man sein Bestes, unbestreitbar. Mögen Widerspruchsgeister behaupten, auch in diesem Fall wie in so vielen anderen sei das Bessere der Feind des Guten, so kann doch mit nicht geringerem Recht behauptet werden, daß das Gewissen des anständigen Menschen in der Ruhe und Untätigkeit weitaus besser geschützt ist als inmitten von Kampf und Getümmel.

Wer klug jede unnütze Gefährdung meidet, bei der kein handgreiflicher Gewinn in Aussicht steht, alles Schwierige umgeht und es andern überläßt, damit fertig zu werden; ja, sich heimlich auf des Gegners Seite schlägt, falls dort größere und bestimmtere Vorteile winken, von dem kann man wahrlich sagen, er tue sein Bestes. Jede andere Taktik ist riskant und folglich töricht.

Der anständige Mensch darf sich nie bloßstellen, und sehr zu Unrecht hat man Pilatus, den anständigen Menschen par excellence, angeschwärzt, da er doch sein Bestes tat und sich die Hände wusch — wie der Priester vor dem Meßopfer.

Lavabo inter innocentes manus meas, ich werde mir mit den Schuldlosen die Hände waschen.

Pilatus war der große römische Bürger, als die Römer die Herren der Welt waren. Anatole, Mitglied der Akademie und Liebling des Bürgers, ist durchaus der rechte Mann, den Ruf dieses Vielverkannten wiederherzustellen. Er würde uns zweifellos mit der ihm eigenen niederschmetternden Autorität und auf Grund seiner persönlichen Erfahrung empfehlen, nach dem Vorbild der schönen lakonischen Kürze der Römer nicht sein Bestes tun oder machen zu sagen, sondern einfach nur machen. Es würde stärker klingen und eindeutiger sein!

ICH BIN MIT MEINEM LATEIN ZU ENDE

Eigenartiges Geständnis Ihres Torhüters oder Hausknechts, wenn er ein Geldstück, das man unvorsichtigerweise hat herumliegen lassen, nicht finden kann, weil er es sorgsam in einer seiner Taschen aufgehoben hat.

Das Ende ihres Lateins bedeutet für diese redlichen Diener ein Unglück, das mindestens ebenso groß ist wie das Ende oder der Verlust der Jungfernschaft. Das Latein gehört ihnen auf die gleiche Art wie das Geldstück, das sie nicht finden können, und sein Ende oder sein Verschwinden geht ihnen nahe.

Hört man einen Bürger, der sonst Analphabet ist, sagen, er sei mit seinem Latein zu Ende, darf man mit Sicherheit auf einen gleichartigen inneren Vorgang schließen; er kämpft mit einer Gewissensschwierigkeit und hat wahrscheinlich einen schlimmen Streich verübt. Man sehe sich im Sinn dieser einfachen Überlegung die Völker an, die mit ihrem Latein zu Ende sind, die Aussicht ist lohnend und stärkend.

DIE EHE IST EIN LOTTERIESPIEL

Man hat sie lange Zeit für ein Sakrament gehalten. Seit Einführung der Scheidung wissen wir, daß sie ein Lotteriespiel ist, an dem man sich zum Glück mehr als einmal beteiligen kann. Zieht man nicht das große Los, so kann man doch einen hohen Treffer erzielen, und das Leben wird unterhaltender. Wem die Aufregungen des Lotteriespiels nicht gut tun, der muß eben auf die Ehe verzichten.

Man beachte die ungemeinen Vorteile dieser Neuordnung. Das Heiraten war früher eine schreckliche Sache. Man mußte lieben und geliebt werden, mußte mehr oder minder lang werben, sich mit allerlei leeren Förmlichkeiten und Zeremonien abgeben. Und endlich hieß es, sich unlösbar für das ganze Leben verbinden. Heute erwirbt man ein Los und wartet ruhig auf den Ziehungstag.

Der Gewinner sieht sich alsbald im Besitz eines mehr oder minder wertvollen Weibchens, das er nach Gefallen sofort aufs Gemeindeamt führen kann, wo der Standesbeamte die beiden unverweilt zusammengibt. Wer mit seinem Los unzufrieden ist, kann ein wenig später seine Frau für eine andere austauschen, er muß nur einen neuen Schein lösen. Das Gesetz erlaubt und begünstigt es, und die Lotterie ist immer geöffnet. Sind Kinder da, übernimmt die öffentliche Fürsorge die Verantwortung für ihr Wohl. Ein Vorteil auch für die Frau, die mehrere Lose gezogen und am selben Tag eingelöst hat, was die Aussicht auf Nachkommenschaft verbessert. Das Dasein hat alsdann etwas Paradiesisches.

SIE SIND EIN ORIGINAL

Eine furchtbare Beschuldigung. Alles kann verziehen wer-der, nur das nicht. Ein Bürger gäbe seine Tochter einem Bankrottierer, einem Meuchelmörder; er gäbe sie mit beiden Händen einem ehrlosen Kuppler, einem wortbrüchigen, abgefeimten Börsenschieber, einem Minister! Doch nie einem Original. Diese Abneigung ließe sich nicht einmal durch Reichtum überwinden, der doch sonst alles rechtfertigt und heiligt.

Die Dichter, die Enterbten, die Bohemiens gefallen sich darin, die Originalität für einen Vorzug zu halten. Diese armen Teufel glauben einem Schriftsteller ein Lob zu spenden, wenn sie erklären, er sei ein Original, er sei er selbst und kein anderer, sie merken nicht, daß dieses Lob ihn herabsetzt. Sie sollen doch nur einmal probieren, einem Kurzwarenhändler oder einem Rechtsanwalt Originalität nachzusagen. Lächerlich. Gibt es ein schlagenderes Argument? Ein guter Schriftsteller soll nicht origineller sein als ein Schuhmacher oder ein Gerber. Mehr noch, er hat sogar die Pflicht, jede Originalität aus tiefstem Herzen zu verabscheuen. Ein schönes Buch von Anatole France oder dem ehrenwerten Lavedan läßt sich daran erkennen, daß es nirgends Anstoß erregt und von jedermann mit Wonne gelesen werden kann. Ein Gemälde, eine Skulptur muß sich die Anerkennung der zünftigen Perückenmacher erringen können, und ein gewissenhafter Architekt darf bei der Errichtung öffentlicher oder privater Bauten nicht mehr Erfindergeist zeigen als etwa für einen Schweinestall nötig ist. Solches lehrt die Erfahrung von Jahrhunderten.

Ein Mensch ist genau so viel wert wie ein anderer, wie das allgemeine Wahlrecht, dem wir so viele Wohltaten verdanken, genugsam beweist. Anders denken und handeln als jedermann heißt die Menge beleidigen. Plato, der seine Republik mit den festesten Schutzwällen umgeben und alles fernhalten wollte, was die Moral gefährden konnte, verbannte erbarmungslos die Dichter und all die andern problematischen Existenzen, die wir heute als originelle Köpfe bezeichnen würden. Das sicherste wäre, sie umzubringen. Die wahre Moral besteht nach dem göttlichen Plato darin, der Herde anzugehören, so zu sein wie alle, und strenge Bürgertugend üben heißt, nicht nach den Sternen langen und so das Vertrauen der Hausherren mißbrauchen.

DIE EHRE

Welchen Sinn kann dies alte Wort heute haben? Wer Ritter der Ehrenlegion geworden ist, weil er sich auf einträgliche Art mit Politik, Kunst oder Finanzwissenschaft beschäftigt hat, braucht durchaus nicht auf dem Feld der Ehre gewesen zu sein, das Ehrgefühl kann ihm ebenso fremd sein wie der Ehrenstandpunkt, er mag jedem Ehrenhandel aus dem Weg gehen, sich in seinen Geschäften als ein dunkler Ehrenmann erweisen und am Ende dennoch die letzten Ehren erhalten. Das alles läßt sich offenbar ausgezeichnet vereinbaren.

Dieser Ritter darf ohne weiteres sein Ehrenwort brechen, wenn es gilt, sich „mit Ehre” aus einer schmutzigen Affäre zu ziehen. Ist er eingeladen, erweist man ihm die Ehren des Hauses, gibt ihm den Ehrenplatz, und er tut dem Essen Ehre an, das heißt, er hat einen glänzenden Appetit. Im Fall eines überraschenden Polizeibesuches entschlüpft er leise über die Hintertreppe, während der Beamte die Ehrentreppe heraufkommt. Das geht alles. Ein weibliches Wesen ohne ein Fünk-chen Ehre kann ohne weiteres und besser als jede andere als Ehrendame einer Königin oder Kaiserin fungieren. Alles schon dagewesen.

Noch nicht dagewesen aber ist eine bürgerliche Hochzeit ohne Ehrenjungfern und deren männliches Gegenstück. Keine Familie, die etwas auf sich hält, wird auf dieses Ehrengeleit verzichten, da sonst eine mißratene Ehe die unausbleibliche Folge wäre.

Dann gibt es noch die Ehrenschulden, die man nicht bezahlen muß, denn Versprechen und Halten sind zweierlei. Man wendet vielleicht ein, daß dies den Gesetzen der Ehre widerspricht, doch die haben so viele Auslegungen erfahren, daß sich in ihnen niemand mehr auskennt. Aus alldem ersehen wir, daß es kein Mittel gibt, exakt festzustellen, was unter Ehre zu verstehen ist.

Nach unendlichen Überlegungen und nachdem ich eine Unzahl reichlicher Mahlzeiten zu mir genommen, erkannte ich, daß die Ehre ein Götzenbild, eine falsche Gottheit ist, die zu verschwinden hat, und daß dem Gesetzgeber, der ihre Abschaffung beschließt, die höchste aller Ehrensäulen gebührte.

WO NICHTS IST, HAT DER KAISER SEIN RECHT VERLOREN

Das passiert dem Eigentümer, der sich in Unkosten gestürzt hat und nichts vorfindet, woran er sich schadlos halten könnte. So gerät ein moderner Kaiser in die wunderliche Lage, eine Majestätsbeleidigung straflos hingehen lassen zu müssen. Wenn ihm die nur allzu gelinden Gesetze, durch die er unvorsichtigerweise seiner Macht Grenzen setzte, wenigstens das Recht einräumen, seinen Mieter ein wenig zu rösten und zu verspeisen, so wäre das zwar eine durchaus unzulängliche Entschädigung, aber immerhin etwas. Er könnte dann noch glauben, daß es eine ewige Gerechtigkeit gibt, und dürfte sich gleichzeitig ein wenig an irdischer Gerechtigkeit erfreuen.

Alles ist reformbedürftig. Wenn die bürgerliche Zivilisation völlig über die christliche Barbarei triumphiert haben wird, wird auch der Kannibalismus wieder zu Ehren kommen: doch veredelt, verfeinert, vervollkommnet, gleichsam als Sport und philanthropische Betätigung, verherrlicht und durch die Wunder der Kochkunst gewissermaßen zu etwas Übernatürlichem geworden; der Tisch des Kaisers verwandelt sich, wenn ich mich so ausdrücken darf, zum Tisch der Eucharistie, denn man verzehrt dort den Armen. Ich sehe die geschmackvollen Einladungen schon vor mir: „Herr und Frau Ducrétin erlauben sich, Sie am Karfreitag zu Gast zu bitten. Es wird Übermensch serviert werden.” Die Rechte des Monarchen wären dann unverlierbar, denn der für eßbar erklärte Mieter könnte geschlachtet werden, ehe er nur noch aus Haut und Knochen besteht, also zu einer Zeit, wo ihn die Kenner als guten Bissen schätzen.

SEINE RELIGIÖSEN PFLICHTEN ERFÜLLEN

Bei dem Wort erfüllen muß ich an das durchlöcherte Faß der Danaiden denken. Parabel oder Gleichnis. Sind die, die ihre religiösen Pflichten erfüllen, in diesem Sinn nicht eine Schar Verdammter, verurteilt zu einer Arbeit, deren Vergeblichkeit sie einsehen? So abgestumpft diese Galeerensklaven der Konvention und Gewohnheit auch sein mögen, so müssen sie doch erkennen, daß hier das Wort erfüllen nur Spott und Hohn bedeutet, und daß sie nichts, ganz und gar nichts erfüllen. Wie könnte durch sie, die selber leer sind, anderes als Leere geschaffen werden? Religiöse Pflichten, gesellschaftliche Pflichten, Staatspflichten, Bürgerpflichten, Unterhaltspflichten, lauter durchlöcherte Fässer. Vacuitas vacuitatum. Die Weltmenschen, die ihre religiösen Pflichten damit erfüllen, daß sie bestimmte unerläßliche Gesten vollführen, ohne auch nur eine Minute daran zu denken, daß Heiligkeit von ihnen verlangt wird, von welchen Insekten werden sie am Tage des Gerichts nicht verurteilt und verdammt werden?

Früher, in längst vergangenen Zeiten, als es diesen Gemeinplatz nicht gab, begehrte man „die Fülle der Zeit Christi”, nach dem geheimnisvollen Ausdruck des Apostels, der beauftragt war, die Völker zu lehren und selber zum unausschöpf-baren Gefäß wurde. Man verachtete jede andere Fülle; man ließ sich in Stücke hacken und wilden Tieren zum Fraß vorwerfen, und die Kelter der Märtyrer füllte die Kufen der Freude, die nicht enden soll.

Heute hat man mehr Sinn für volle Dispenserteilung und volle Mägen an Fasttagen. An die dreißig Arten Wassergeflügel sind als Fastenspeise erlaubt und den Fischen gleichgestellt. Die Ente hat über den Stockfisch den Sieg davongetragen, aber die arme Religion ist es, die todwund auf dem Schlachtfeld liegt.

DAS WORT GOTTES

Um nicht in den Verdacht des Fanatismus zu geraten, haben sich die modernen Prediger etwas ausgedacht, was sie mit Bescheidenheit das Wort Gottes nennen. Es besteht darin, stundenlang zu salbadern und sich mit vollendeter Geschicklichkeit um das Ja und Nein herumzudrücken.

„Hören Sie sich doch die Vorträge des Paters Machin an”, rät man mir. „Es wird Ihnen weder schaden noch nützen, es ist jedenfalls eine Art, die Zeit totzuschlagen.”

Zahm wie ein Schaf gehe ich also hin, den Pater Machin zu hören, der, wie sich herausstellt, wirklich nichts von einem Fanatiker hat. Er redet so lange und in einem solchen Wortschwall, daß man vom bloßen Zuhören durstig wird. Was ich vor allem bewundere, ist die Gazellengewandtheit, mit der er alle Hindernisse überspringt, die ihn von seiner Zuhörerschaft trennen könnten: die zwölf Glaubensartikel, die Schrift, die Tradition, die Heiligenverehrung, die Buße, die Letzten Dinge, die Hölle vor allem und noch anderen alten Kram, bei dem zu verweilen lächerlich wäre. Die moderne Philosophie, etwa die Bergsons, bedeutet eine große Hilfe und ersetzt vorteilhaft die Offenbarung. Dann fesselt man sein Publikum durch ein paar diskrete Hinweise auf die Segnungen der Demokratie und die aufgeklärte Toleranz derer, die eben am Ruder sind, sichere Bürgen für die unbestreit-baren und wundervollen Fortschritte des Glaubens. Von der göttlichen Liebe kein Sterbenswort. So und nicht anders wird das Wort Gottes verkündet. Gewöhnlich schlafe ich dabei ein und schnarche vor Bewunderung.

SICH VOM GESCHÄFT ZURÜCKZIEHEN

Eine gemeine und niederträchtige Art, seinen Einsatz aus dem Spiel zu nehmen. Überflüssig festzustellen, daß man sich erst, nachdem man ein Vermögen erworben hat, vom Geschäft zurückziehen darf. Andernfalls hätte man vor dem Sieg das Schlachtfeld geräumt.

„Ich habe genug beisammen”, sagen Sie mir, „um ruhig auf dem Land zu leben, und ziehe mich daher vom Geschäft zurück. Ich habe das dreckige Geschäftemachen satt. Ich werde Gärtnerei und Angelsport treiben.”

Hierauf antworte ich ohne Zögern, daß Sie dann ein Idiot und Verräter sind. Sie gleichen einem schlechten Priester, den der Altar anwidert. Sie Elender haben also noch nicht begriffen, daß der Mensch einzig für das Geschäft existiert, daß das Geschäft seine letzte wahre Bestimmung ist und daß es sonst nichts Wirkliches gibt. Wozu wollen Sie sich zurückziehen, und was soll aus Ihnen werden? Sind Sie etwa Dichter oder fromm, daß Sie der Einsamkeit bedürfen und den stärkenden Anblick eines Büros entbehren können? Sie sind unfähig zu denken, zu träumen, zu lieben. Die schönste Landschaft bedeutet für Sie dasselbe, was sie für eine Kuh oder ein Maultier bedeutet. Die einzige für Sie mög-liehe Lektüre ist die von Katalogen, Marktberichten und Kursblättern. Bisher waren Sie nur gemein, nun aber werden Sie einer unendlichen Verblödung anheimfallen, und lange vor Ihrem Tod, der unsauber sein wird, gelten Sie als erledigt.

Welch erhebendes Schauspiel bietet dagegen die tapfere Schar von Geschäftsleuten und Industriellen, die, standhaft kämpfend wie vormals die Märtyrer, lieber ihr Leben lassen als ihr Geschäft! Denken Sie an das erhabene Ende des großen Chauchard, der bis zur letzten Stunde an der Front blieb und dessen wundertätigem Kadaver ein ganzes Volk schluchzend das Geleit gab! Sie sehen heute den über alles Menschenmaß hinausragenden Pierpont Morgan, wie er auf einem Paket von Milliarden verendet! Sie werden weder in den Annalen der Geschichte noch im Leben der berühmtesten Heiligen etwas finden, das mit ihren Leistungen verglichen werden könnte.

Versündige dich niemals am Geschäft; es ist etwas Geheiligtes! Es kann sich manchmal von uns zurückziehen, weil wir seiner nicht würdig sind oder wegen irgendeines anderen geheimnisvollen unglücklichen Umstands, aber wir dürfen uns nicht von ihm zurückziehen, wenn wir Menschen bleiben wollen.

Ich habe kurz zuvor gesagt, man dürfe es, wenn man ein Vermögen erworben hat; das galt für die Schwachen. Die Starken werden das nie zugeben. Für sie gibt es weder erworbenes Vermögen noch Vermögen überhaupt. Für sie gibt es nur das Geschäft, es ist die einzige Realität, der heilige Gral, dem man sein Leben und, seit der Vernichtung des Christentums, vor allem das Leben der andern zu opfern hat.

DEM TOD INS ANTLITZ SEHEN

Alle Romanhelden sind es gewohnt, dem Tod ins Antlitz zu sehen. Keiner, muß man annehmen, hat ihn also im Profil gesehen. Was vielleicht schrecklicher ist. Doch derlei sagen heißt soviel wie nichts sagen. Wo ist der Krämer, der an den Tod glaubt? Ich bin ihm noch nie begegnet. Niemand glaubt an den Tod. Ein Gerichtsdiener, der Tritte in den Hintern bekommen hat und behauptet, er habe dem Tod ins Antlitz gesehen, wird auf niemand Eindruck machen.

Gewiß, man weiß, daß der Friedhof nicht der Hunde wegen da ist, wiewohl es auch für sie einen gibt, in der Umgebung von Asnieres, wo man diesen Tieren Grabsteine mit Epitaphen errichtet und bürgerliche Kadaver nicht zugelassen werden. Ja, man weiß das und noch anderes mehr, doch was für den Rentner und Händler nicht existiert, ist die Wirklichkeit des Todes.

Der Friedhof ist ein Garten, in den man einmal im Jahr Blumen bringt. Gelegenheit zu ausschweifender Sentimentalität, Gelegenheit auch, hie und da für sich ein wenig Reklame zu machen oder ein Geschäft einzuleiten, sind doch Gräber der rechte Ort, von übelriechender und verderblicher Ware zu reden. Und das ist alles. Keiner dieser Friedhofsbesucher wird auf seinem Schafs-oder Judasgesicht ein Zeichen tragen, daß ihn die Finger des Todes berührten, und sei es noch so leise, keiner ein ahnungsvolles Unbehagen spüren, das ihn mahnt, daß es eines Tages aus sein wird. Höchstens fällt ihm bei der dritten Flasche ein, eine Kartenaufschlägerin oder einen rechtskundigen Genealogen aufzusuchen, um irgendeine obskure Erbschaft aufzuspüren und seine Ansprüche geltend zu machen.

Aber mein lieber Hausherr, du mußt ja blind sein, daß du mir nicht ins Antlitz siehst, mir, deinem vielgeliebten Mieter, der als Stellvertreter des Todes dich jedes Vierteljahr an ihn erinnert! Doch du hast nur Augen für das Geld, das ich dir bringe. Du zählst aufmerksam die Geldstücke, die das Blut meiner Kinder sind oder das meine, das ich Tropfen für Tropfen ausgeschwitzt habe, und begreifst nicht, daß du es mir wiedergeben mußt in Gestalt deines Lebens, dem elenden Leben einer Wanze, die allmählich an diesem stärkeren Blut zugrunde geht.

Du denkst kaum an die Toten, nicht wahr? Und doch bist du nicht mehr der Jüngste und mußt, wenn du nicht vollkommen stumpfsinnig bist, bemerkt haben, wie erstaunlich ähnlich alle Menschen für die Augen eines Greises werden, je weiter man sich von den farbigen Illusionen der Jugend entfernt — man entdeckt gleichsam die Identität allen Daseins. Zuletzt und in der Nähe des Grabes sieht man fast nur einen Menschen in allen Menschen.

So ist es in der unermeßlichen Welt der Toten, die alle einander ähnlich sehen und denen du, mein lieber Krösus, immer ähnlicher wirst. Sie umgeben dich schon. Sie sind an deinem Tisch, bei deiner Kasse, an deinem Bett, und hätte dein altes Herz Ohren, hörtest du sie zueinander sagen: „Wie gleicht uns dieses das Geld der Armen zählende Gespenst! Warum nur zögert es so lang, zu uns zu kommen?”

*

Man hat oft gefragt, wo das irdische Paradies gelegen sein könne. Plato und mein gelehrter Freund vom Institut Pierre Termier haben mir die Mittel an die Hand gegeben, seine Lage zu bestimmen. Das irdische Paradies, das strahlende Eden, aus dem unsere ersten Eltern vertrieben wurden, war nichts anderes und konnte nichts anderes sein als Atlantis.

Es ist mir bekannt, daß das auch schon von ich weiß nicht welchen Amerikanern behauptet wurde, zweifellos, um glauben zu machen, dieser seit so vielen Jahrhunderten verschwundene Kontinent habe vormals zu ihrem Kontinent gehört, so daß das heutige Amerika die Tradition des biblischen Lustgartens ununterbrochen bis zur Gegenwart herabführte. Man braucht indes das gelobte Land des Dollars nur flüchtig zu kennen, um zu wissen, was von dieser Behauptung zu halten ist. Die Sintflut, erläutern sie weiter, die man bisher als eine allgemeine auffaßte, sei durch den Untergang von Atlantis und der gleichzeitigen Vernichtung des ersten Edens hinreichend erklärt. Doch ich lasse diese Scheinprotestanten und wende mich wieder dem göttlichen Plato zu, der zwar nichts vom irdischen Paradies wußte, doch der unverwerfliche Zeuge einer uralten Tradition gewesen zu sein scheint.

In seinem wundervollen Vortrag vom 30. November 1912 im Institut Océanographique hat Pierre Termier auf Grund der neuesten geologischen Erkenntnisse die Glaubwürdigkeit des großen Philosophen überzeugend bewiesen, der seit zweieinhalb Jahrtausenden unbeirrbar die Geschichte von Atlantis in seinen Dialogen darstellt.

„Vom geologischen Standpunkt”, erklärte Termier, „erscheint der platonische Bericht durchaus wahrscheinlich. Man darf ihm Glauben schenken. Die Wissenschaft selber, die allermodernste Wissenschaft, lädt dazu ein. Sie führt uns hinaus an das Gestade des Ozeans und läßt uns zugleich mit den Tausenden entmasteter, versunkener und in Trümmer zerfallener Schiffe die Inseln und Kontinente schauen, die zahllos in Abgrundtiefen begraben liegen.”

Mit Staunen und Schrecken folgen wir unserem Geologen auf die unterseeischen Gebirge oder in die ozeanischen Talsenken, helles Tageslicht fällt in die Wasserschlünde, die bisher undurchdringliche Finsternis verhüllte. Welch unfaßbare Vision entfaltet sich vor unseren Blicken!

Wir sehen die Reliefkarte des Bettes des Atlantik vor uns, Gräben von mehr als 6000 Meter Tiefe, Steilhänge von schwindelnder Höhe, Wände von erschreckender Kahlheit, vor denen ein Dante schaudern würde, Arenen des Grauens, im bekannte Alpen, nie gesehene Bergketten mit ihren Wällen, Graten und Zinken, ihren unbezwungenen Flanken, ihren Zacken und Klippen, ihren furchtbaren Schluchten, in denen Untiere von einer Scheußlichkeit hausen, daß ihr bloßer Anblick tötet; und endlich hie und da Pyramiden oder wunderbare Säulen, gekrönt mit Zauberinseln voller Licht und Grün, auf denen Menschen in Freude oder in Leid wohnen, ohne zu ahnen, daß sie in Wahrheit auf der äußersten Spitze einer Nadel leben, die morgen schon die leichteste plutonische Er-schütterung zerbrechen kann; denn die Vulkane gehen unten weiter, in den ungeheuren Talsenken, die wahrscheinlich von Pol zu Pol reichen, ohne der riesigen Querfurchen zu gedenken, wie etwa der des Mittelmeeres und anderer noch wenig erforschter.

All das wirkt seltsam beunruhigend und verwirrend auf die Seele. Man hat das Gefühl der Unsicherheit und des Elends. Man erkennt, daß die Erde ein Traum, ja Traum in einem Traum ist und daß es töricht ist, auf ihren Bestand zu bauen. „Unsinniger, noch in dieser Nacht wird deine Seele von dir gefordert werden.” Diese furchtbare Drohung gilt nicht nur den Menschen; sie gilt ebenso den Inseln und Kontinenten, ja der ganzen Erde.

Der gigantische Untergang von Atlantis ist kein vereinzeltes Ereignis. In näherer Vergangenheit, am Ende des IV. Jahrhunderts, wurde ein bedeutendes Stück unserer Bretagne vom Meer verschlungen. Die stolze und mächtige Stadt Is, in der der König Grallon residierte, verschwand in einer Nacht mit ihrem Volk und ihren Schätzen, und an ihrer Stelle dehnt sich nun die Bucht von Douarnenez. Man zeigt noch, wie man mir erzählte, die Spuren einer gepflasterten Straße, die von der berühmten Abtei Landévénec zu der versunkenen Stadt führte. Man sieht sie untertauchen und sich in den Wassern verlieren …

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Plato, der nur das Echo einer vermutlich uralten Tradition ist, drückt sich natürlich symbolisch aus, wie alle Dichter, die — mit oder ohne Symbolik — immer nur vom verlorenen Paradies berichten konnten und können. Auf Grund einer überlegenen Intuition und ohne etwas von diesem Paradies zu wissen, erblickt er es in Atlantis, „einer Insel, größer als Asien und Afrika zusammen”, wie er sagt, um seinen Zuhörern einen Begriff von ihrer Ausdehnung zu geben. Er schildert sie als ein Land der Wonne, der Fruchtbarkeit, beherrscht von „Königen von gewaltiger und wunderbarer Macht”, die über zahllose wohlhabende und volkreiche Dörfer geboten, vor allem aber über eine prächtige Stadt, deren Paläste und Tempel „aus Steinen von drei Farben” von geheimnisvoller Bedeutung gebaut waren … Termier erklärt diese drei Farben als Geologe, ohne der symbolischen Deutung vorzugreifen, für die sich bisher weder ein christlicher noch ein heidnischer Ausleger gefunden hat.

All diese Bilder, gleichsam die verdämmerten Nachbilder eines schönen Traumes, lassen sich wohl als die fast erloschene Erinnerung an den Garten Eden deuten, den Gott für seine Kinder geschaffen und den sie nicht wiederfinden können, seit sie ihn verlassen, um sich über die Erde zu verbreiten.

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Wir dürfen also in diesem versunkenen, doch keinesfalls aus der Welt verschwundenen Atlantis das irdische Paradies vermuten. Viele Heilige, die Kirche selbst, haben an den Fortbestand dieses „Gartens der Glückseligkeit” geglaubt. Andere, wie etwa der hochgemute Christoph Columbus, fuhren .ms, ihn in einer noch unerforschten Welt zu suchen. Man konnte sich die Vernichtung eines solchen Wunderwerkes nicht vorstellen. Sicher besteht es noch, und zwar auf der gleichen Stelle, nur auf eine uns unbegreifliche Art.

„Hodie mecum eris in paradiso — Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.” Dies sind die Worte des gekreuzigten h iis vor seinem Tod an Sankt Dismas, seinen Leidensgrfährten, den rechten Schacher, als um die sechste Stunde I msternis die Erde zu bedecken anfängt. Im Paradiese, und war noch heute! Was wollen diese Worte besagen? Erst nach vierzig Tagen wird Jesus in sein himmlisches Paradies auffahren. Vorher, heute noch, muß er in die Hölle hinabsteigen, wie es im Glaubensbekenntnis steht. Damit das unverbrüchliche Versprechen des sterbenden Christus Erfüllung finde, bleibt also nur das irdische Paradies.

Dieses Paradies ist seit dem Sündenfall verschlossen und unauffindbar und wurde nur für den rechten Schächer geöffnet, der die auf Golgatha gerettete Menschheit vertritt und dessen Fest die Kirche am 24. April feiert. Nach dem Dafürhalten der Kirchenväter vor und nach dem heiligen Cyrillus von Jerusalem, der im 4. Jahrhundert starb, kommen die Seelen der Abgeschiedenen sogleich nach ihrem Aufenthalt im Fegefeuer in das Paradies Adams, Vorraum des ewigen Paradieses, und der rechte Schacher hat den Auftrag und das Vorrecht, den Seelen Einlaß zu gewähren; der Patriarch Henoch und der Prophet Elias, die einzigen vom Tod verschonten Sterblichen, sind die alleinigen Bewohner dieses seligen Gefildes — bis der Tod des Erlösers seine Pforten entriegelt. So dachten der heilige Justinus, der heilige Irenaus, der heilige Hilarius von Poitiers und noch viele andere. Sankt Dismas hält die Schlüssel des irdischen Paradieses wie Sankt Peter die des Himmelreiches.

Ein Wesen außergewöhnlicher Art sagte mir einmal: „Was Gott verbergen will, verbirgt er im Haus des Diebes”.

Seit mehr als dreißig Jahren lebe ich diesem Wort gemäß, das mir so vieles erleuchtet hat. Das irdische Paradies suchen heißt den guten Schacher suchen. Doch wo es suchen, wenn nicht an der Stelle, wo es verschwunden ist, nämlich in der Tiefe des Abgrunds, der Atlantis verschlungen hat? Gleich Jesus muß der Garten Eden bis in die Nähe der Hölle hinabgestiegen sein, in eine Tiefe, die kein Senkblei erlotet. Er ist hinabgesunken mit seinem strahlenden Licht, seinem überirdischen Flammenwall, den weder Finsternis noch Wasserfluten zu überwinden vermögen. Ignis in aqua valebat supra suam virtutem et aqua extinguentis naturae obliviscebatur, heißt es im Buch der Weisheit. Der Herr ist um Wunder nicht verlegen.

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Was machen wir aber nun mit unserem armen Bürger und seinen Gemeinplätzen, von denen wir uns so weit entfernt haben? Kehren wir wieder zurück, wo wir ihn stehen ließen? Werden es die Engel und Boten der Gnade zulassen, unter deren Schutz wir stehen, und welcher von ihnen wird von dem lebendigen Gott die Erlaubnis erhalten, uns zu begleiten?

Angenommen, es wäre möglich, den Bürger hieher zu führen in das Dämmerlicht des Aufgangs, wo wir erzittern unter den Schauern der Liebe, würde er von uns nicht sogleich seine übliche Portion Schmutz fordern und uns seine unsaubere Weisheit auftischen? Er würde uns erklären, daß er selber das irdische Paradies sei und daß er es keinem Schacher raten würde, hier Einlaß zu suchen, da die Tore eines Geistes und seines Herzens wohl verschlossen und fest verriegelt sind. Er würde ferner erklären, daß ihm sein eigenes Licht genüge und er keinerlei übernatürlicher Erleuchtung bedürfe; Atlantis sei übrigens ein lächerliches Märchen, und wenn es ein irdisches Paradies gäbe, hätte man es bestimmt schon entdeckt. Die Seelen aber, setzt er hinzu, die hat noch niemand gesehen, und wenn man tot ist, ist man eben tot. Und was Sie da von Vulkanen und Erderschütte-rungen zum besten gegeben haben, ist ein guter Witz. Gelehrtengeschwätz. Man will den Leuten Angst einjagen, aber ic lass’ mir den Appetit nicht verderben usw.

„Gottes Wege sind im Meer, und seine Pfade in der Tiefe des Abgrunds.” Dir, o Bürger, werden diese Worte des Psalmisten wohl nicht viel sagen, ja sie müssen dir völlig nichtssagend vorkommen. Wenn sie aber aus dem Mund deines Notars kämen, der, plötzlich von einer unbegreiflichen Erleuchtung durchzuckt, dir offenbarte, daß du selber ein Abgrund bist, den, sooft es ihm beliebt, der Herr aller Abgründe durchwandert, was würdest du sagen, wenn dies Wunder geschähe, und was würde aus deinem Appetit?

Denk nur! Ein Abgrund von unermeßlicher Tiefe, wie es in der Schrift heißt, den nur die Augen des Herrn, lucidiores super solem, zu durchdringen vermögen! Du, der makellose, angesehene Bürger, du sollst der Abgrund Hiobs sein, der sagt: „Die Weisheit ist nicht in mir”, du sollst der Abgrund sein, der vergeblich den Abgrund anruft, wenn Er, den du nicht kennen willst, dir die Rechnung deiner Miete im Abgrund präsentiert!

Du sollst doch daran denken, armer Narr, und deinem Stumpfsinn etwas Einhalt gebieten und aufhören, die Unglücklichen zu quälen. Denn du und ich, wir sind beide Abgründe, nichts als Abgründe!

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