Valery und seine Idole

Valery und seine Idole

E.M. Cioran

Für einen Autor ist es ein wahres Unglück verstanden zu werden; Valery ist zu Lebzeiten verstanden worden, er wurde es auch danach. War er denn so einfach, so durchschaubar? Gewiß nicht. Doch hat er die Unvorsichtigkeit begangen, zu viele Aufschlüsse über sich und über sein Werk zu geben, er hat sich erläutert, verraten, hat viele Schlüssel angeboten, manche jener Mißverständnisse aufgeklärt, die dem geheimen Prestige eines Schriftstellers unentbehrlich sind: statt anderen die Aufgabe seiner Enträtselung zu überlassen, hat er sie selber übernommen; er hat die Sucht der Selbstauslegung bis zum Laster getrieben. Die Aufgabe der Kommentatoren wurde dadurch ungewöhnlich erleichtert: indem er sie von vornherein in seine wesentlichen Probleme und Reaktionen einweihte, legte er ihnen nahe, weniger sein Werk als die von ihm darüber gelieferten Aussagen zu überdenken. Da es sich so verhielt, konnten die Fragen, die ihn betrafen, nur klarstellen, ob er in dieser oder jener Hinsicht Opfer einer Täuschung gewesen ist oder im Gegenteil einer übersteigerten Luzidität – in beiden Fällen eines von der Wirklichkeit abgelösten Urteils. Nicht nur ist er sein eigener Deuter gewesen, sondern darüber hinaus sind alle seine Werke nur eine mehr oder weniger getarnte Selbstbiographie, gelehrte Introspektion, Tagebuch seines Geistes, Erheben jedweder seiner Erfahrungen in den Rang eines intellektuellen Ereignisses, ein Anschlag auf alles, was in ihm unbedacht sein mochte, ein Aufstand gegen seine Untergründigkeiten.

Jeden Mechanismus auseinandernehmen, da alles Mechanismus ist, Summe von Kunstgriffen, von Tricks oder, um es vornehmer auszudrücken, von Operationen; sich auf die Triebfedern konzentrieren, sich in einen Uhrmacher verwandeln, hinein-blicken, sich vor jeder Düpierung schützen – das ist, was für ihn zählt. Der Mensch, wie er ihn begreift, gilt ausschließlich durch seine Fähigkeit, die Zustimmung zu verweigern, durch das Maß an Klarsicht, das er erreicht. Die Forderung der Klarsicht läßt an jenen Grad des Erwachens denken, den jede spirituelle Erfahrung voraussetzt und der von der Antwort bestimmt wird, die man auf die entscheidende Frage gibt: »Wie weit bist du in der Wahrnehmung der UnWirklichkeit gelangt?«

Man könnte bis ins einzelne die Parallelen zwischen dem entschiedenen Streben nach Klarsicht diesseits des Absoluten, wie es bei Valery vorkommt, und der mystischen Suche nach dem Absoluten nachweisen. Beim einen wie beim anderen Vorgehen handelt es sich um eine äußerste Reizung des Bewußtseins, das es eilig hat die von ihm noch mitgeschleppten Illusionen abzuschütteln. Jeder gnadenlose Analytiker, jeder Enthüller des Scheins und um so mehr jeder »Nihilist« ist nur ein blockierter Mystiker, und zwar ausschließlich deshalb, weil ihm widerstrebt, seiner Klarsicht einen Inhalt zu geben, sie zum Heil zu wenden, indem er sie mit einem Unterfangen verbindet, das über sie hinausgeht. Valery war allzusehr vom Positivismus angesteckt, um sich einen anderen Kult als denjenigen der Hellsichtigkeit um ihrer selber willen vorstellen zu können. »Ich gestehe es ein, ich habe aus meinem Geist ein Idol gemacht, aber ich habe kein anderes gefunden.« Valery hat sich nie vom Staunen erholt, in welches ihn das Schauspiel seines eigenen Geistes versetzte. Er hat ausschließlich jene bewundert, die den ihrigen vergötterten und deren Bestrebungen so maßlos waren, daß sie nur in Bann schlagen oder verwirren konnten. Was ihn an Mallarme verführte, war sein Wahnwitz, es war der Mallarme, der 1885 an Verlaine schrieb: ». . . ich habe immer etwas anderes erträumt und versucht, mit Alchemistengeduld, bereit, jede Eitelkeit, jede Befriedigung zu opfern, wie man einst seine Möbel und die Dachbalken in Brand steckte, um den Ofen des >großen Werks< zu heizen. Was? Es ist schwer zu sagen: ganz einfach ein Buch in etlichen Bänden, ein Buch, das ein architektonisches, vorbedachtes Buch wäre und nicht eine Sammlung zufälliger, noch so wundervoller Eingebungen . . . Ich gehe noch weiter und sage: Das BUCH, in der Überzeugung, daß es im Grunde nur eines gibt« . . . Schon 1876 hatte er in einem Brief an Cazalis den gleichen großartigen und wahnhaften Wunsch geäußert: ». . . ich würde nicht ohne echte Herzbeklemmung in das letzte Verschwinden eintreten, hätte ich nicht mein Werk abgeschlossen, das Werk, das Große Werk, wie es unsere Vorfahren, die Alchemisten, nannten.« Ein Werk schaffen, das der Welt Konkurrenz macht, das nicht ihr Abbild sondern ihr Doppel wäre, diese Idee hat er weniger den Alchemisten als Hegel zu verdanken, den er nur mittelbar durch Villiers kannte. Der hatte ihn seinerseits kaum gelesen, gerade genug immerhin, um ihn gelegentlich zu zitieren und um ihn schwülstig den »Wiederaufbauer des Universums« zu nennen. Diese Formel muß Mallarme frappiert haben, da das BUCH eben dieser Wiederaufbau des Universums sein sollte, den er plante. Die Idee konnte jedoch auch von seiner Vertrautheit mit der Musik und von den Musik-Theorien seiner Zeit herrühren. Sie stammten von Schopenhauer und wurden von den Wagnerianern verbreitet. Ihnen galt sie als die einzige Kunst, die imstande sei, das Wesen der Welt wiederzugeben. Im übrigen war Wagners Unternehmen selber dazu angetan, mächtige Träume einzugeben und zum Größenwahn zu verleiten, ganz wie die Alchemie oder der Hegelianismus. Ein Komponist und noch dazu ein fruchtbarer Komponist kann gelegentlich den Ehrgeiz haben, die Rolle des Demiurgen zu spielen; aber ein Dichter, ein bis zur Unfruchtbarkeit zarter Dichter – wie könnte der es sich leisten, ohne der Lächerlichkeit oder dem Wahn anheimzufallen ? Das alles hat Teil am Ausufern, an der Divagation, um ein Wort zu brauchen, das Mallarme liebte. Und gerade durch diesen Aspekt zog er an, überzeugte er. Valery folgt ihm, ahmt ihn nach, wenn er von jener Komödie des Intellekts spricht, die er sich dereinst zu schreiben vornahm. Der Traum der Maßlosigkeit führt leicht zur absoluten Illusion; als Mallarme am 3. November 1897 Valery die korrigierten Fahnen von Un Coup de desjamais n'abolira le hasard (Ein Würfelwurf hebt den Zufall nicht auf) zeigte und ihn fragte: »Finden Sie nicht, daß das eine Wahnsinnstat ist?«, da war nicht Mallarme der Wahnsinnige, sondern jener Valery, der in einem Anfall von erhabener Exaltierung schrieb, in diesem Dichtwerk mit seinem sonderbaren Satzbild habe der Autor versucht, »eine geschriebene Seite in die Potenz des gestirnten Himmels zu erheben«. Sich eine unverwirklichbare, ja, unbestimmbare Aufgabe zuweisen, die Stärke begehren, wenn man von der subtilsten Blutarmut verzehrt wird, – in allem zeigt sich eine Spur Schauspielerei, ein Wunsch sich selber zu täuschen, geistig über seine Mittel zu leben, ein Wille zur Legende und zum Scheitern, weil der Versager auf einer bestimmten Ebene unvergleichlich mehr fasziniert als der glücklich ans Ziel gelangte. Immer weniger interessieren wir uns für das, was ein Autor gesagt hat, als für das, was er sagen wollte, nicht für seine Leistungen, sondern für seine Vorhaben, weniger für sein wirkliches als für sein erträumtes Werk. Wir begeistern uns für Mallarme, weil er die Voraussetzungen des unverwirklichten Schriftstellers erfüllt, der unverwirklicht ist in Hinsicht auf das verstiegene Ideal, das er sich zum Ziel gesetzt hatte; so verstiegen ist es, daß man gelegentlich dazu neigt, denjenigen naiv oder betrügerisch zu nennen, der in Wahrheit nur verblendet war. Wir sind leidenschaftliche Bewunderer des totgeborenen, unterwegs aufgegebenen, unvollendbaren, durch seine eigenen Ansprüche untergrabenen Werkes. In diesem Fall ist das Sonderbare der Umstand, daß das Werk nicht einmal begonnen wurde, da vom Buch, diesem Rivalen des Universums, faktisch kein Indiz bleibt: es darf bezweifelt werden, daß in den Notizen, die Mallarme vernichten ließ, die Fundamente gelegt wurden, da doch jene Aufzeichnungen, die erhalten blieben, ein Verweilen nicht lohnen. Mallarme: eine Anwandlung von Denken, ein Denken, das sich niemals ganz verwirklicht, das sich ins Eventuelle, ins Unwirkliche verrannt hat, losgelöst von jeder Tat, jedem Gegenstand, ja, jedem Begriff überlegen . . ., ein Warten auf das Denken. Und was er, der Feind des Ungefähren, schließlich ausgedrückt hat, ist eben dieses Warten, das nichts anderes ist als das Ungefähr selber. Doch dieses Ungefähr, das der Raum der Maßlosigkeit ist, hat auch eine positive Seite: es erlaubt groß zu imaginieren.
Indem er vom Buch träumte, gelangte Mallarme zum Einzigartigen: wäre er vernünftiger gewesen, er hätte ein gleichgültiges Werk hinterlassen. Das gleiche kann von Valery gesagt werden: er ist das Produkt der fast mythologischen Vorstellung, die er sich von seinen Fähigkeiten gemacht hat, und dessen, was er aus ihnen holen konnte, hätte er nur die Möglichkeit oder die Zeit gehabt, sie wirklich einzusetzen. Sind seine Cahiers (Hefte) nicht Abhub des Buches, das auch er abfassen wollte? Er ging weiter als Mallarme, vermochte aber ebensowenig seinen Plan zu verwirklichen, der Halsstarrigkeit und Panzerung gegen die Langeweile erforderte, jenes Leiden, das, wie er selbst bezeugt, nie abließ ihn zu quälen. Die Langeweile jedoch, das ist die Diskontinuität, der Überdruß vor der durchgehaltenen, begründeten Überlegung, die zerstobene Besessenheit, der Abscheu vor dem System (das Buch hätte nur System, totales System sein können), der Abscheu vor der Nachdrücklichkeit, vor der Dauer einer Idee; die Langeweile ist Gedankensprung, Fragment, Aufzeichnung, Heft, letztlich Dilettantismus aus Mangel an Lebenskraft und auch aus Angst, tief zu sein oder zu scheinen. Valerys Angriff gegen Pascal könnte durch eine intellektuelle Scham erklärt werden: ist es nicht ungehörig seine Geheimnisse, seine Erschütterungen, seine Abgründe, zur Schau zu tragen? Vergessen wir nicht, daß für einen Menschen des Mittelmeers wie Valery die Sinne zählten und daß für ihn die fundamentalen Gegebenheiten der Anschein und das Nichts waren. Das Sein als solches hatte in seinen Augen keine Dimension und keine Bedeutung . . . Weder Mallarme noch Valery waren dazu ausgerüstet, sich ans Buch zu wagen. Vor ihnen wäre Poe fähig gewesen, sowohl diesen Plan auszuhecken als sich an die Ausführung zu machen, und er hat es ja auch getan, da »Eureka« ein Werk der äußersten Grenze, ein Endwerk war, ein ungeheurer und verwirklichter Traum. »Ich habe das Rätsel des Universums gelöst« – »Ich begehre nicht mehr zu leben, da ich Eureka (Heureka) geschrieben habe.« Das hätte Mallarme gleichfalls ausrufen mögen; er hatte nicht das Recht dazu, nicht einmal nach der prachtvollen Sackgasse des »Würfelwurfes«. Baudelaire hatte Poe einen »Helden« der Literatur genannt; Mallarme geht noch weiter, er nennt ihn »den absoluten literarischen Fall«. Niemand würde heute ein solches Urteil unterschreiben, aber darauf kommt es nicht an, denn jedes Individuum wie jedes Zeitalter haben nur Wirklichkeit durch ihre Übertreibungen, durch ihre Fähigkeit der Überschätzung, durch ihre Götter. Die Abfolge literarischer oder philosophischer Moden zeugt für ein unwiderstehliches Bedürfnis nach Anbetung: wer hat nicht irgendwann Heiligenverehrung getrieben? Ein Skeptiker wird stets einen noch Skeptischeren finden, den er verehren kann. Selbst im achtzehnten Jahrhundert, als das Anschwärzen zur Institution wurde, ist der »Verfall des Bewunderns« nicht so allgemein gewesen, wie Montesquieu meinte.

Für Valery gehört das Thema, das in Eureka behandelt wird, in die Zuständigkeit der Literatur. »Die Kosmogonie ist eine literarische Gattung von bemerkenswertem Fortbestand und erstaunlicher Vielfalt, eine der ältesten aller Gattungen.« Ähnlich dachte er von der Geschichte und sogar von der Philosophie. Sie nannte er: »Eine besondere literarische Gattung, die durch bestimmte Themen, durch die Häufigkeit bestimmter Ausdrücke und bestimmter Formen gekennzeichnet ist.« Man kann behaupten, daß mit Ausnahme der strengen Wissenschaften alles für ihn auf die Literatur zurückgeführt wird, auf etwas Zweifelhaftes, wenn nicht gar Verächtliches. Doch wo findet man einen, der literarischer wäre als er, einen, der dem Wort mehr Aufmerksamkeit, ja, Ver-götzung spendete? Als gegen sich selber gewendeter Narziß verachtete er die einzige Tätigkeit, die mit seiner Natur im Einklang stand: dem Wort zubestimmt, war er wesentlich Literat, und diesen Literaten hätte er ersticken, vernichten mögen; weil ihm das nicht gelang, hat er sich an der Literatur gerächt, von der er das Schlechteste sagte. Solcherart mag das psychologische Schema seines Verhältnisses zu ihr sein.

Eureka hat in der Entwicklung Valerys keine Wirkung gehabt. Hingegen ist die The Philosophy of Composition (Entstehung eines Gedichtes) ein Ereignis von hohem Rang, eine entscheidende Begegnung. Alles, was Valery später vom Mechanismus des poetischen Akts denken sollte, war bereits hier. Man kann sich die Verzückung vorstellen, mit der er gelesen hat, daß die Komposition von The Raven (Der Rabe) in keinem einzigen Punkt vom Zufall oder von der Eingebung abhing und das Gedicht mit der »Präzision und strengen Logik eines mathematischen Problems« ersonnen wurde. Eine andere Aussage Poes, diesmal in Marginalia (cxviii) muß ihn gleichermaßen beglückt haben: »Es ist das Unglück (Valery hätte gesagt: das Glück) mancher Geister, daß sie sich niemals mit der Vorstellung begnügen, sie könnten etwas vollbringen, nicht einmal mit der, es vollbracht zu haben; sie müssen außerdem wissen, und den anderen zeigen, wie sie es gemacht haben.«

Die Philosophy of Composition war von Poe als Jux (a mere hoax) gemeint; aus einer naiven Auslegung, aus der Begeisterung für einen Text, in welchem der Dichter sich über seine leichtgläubigen Leser lustig machte, ist der ganze Valery hervorgegangen. Dieser jugendliche Enthusiasmus für eine so grundlegend antipoetische Beweisführung bestätigt, daß im Ursprung, in seinem Innersten Valery nicht Dichter war; denn sein ganzes Wesen hätte sich auflehnen müssen vor diesem kalten unerbittlichen Abbau der Begeisterung, vor dieser Anklagerede gegen den elementarsten dichterischen Reflex, gegen den Daseinsgrund der Dichtung; – aber zweifellos bedurfte er dieser schlauen Inkriminierung, dieses Verachtens jeglicher spontaner Schöpfung, um seinen eigenen Mangel an Spontaneität rechtfertigen, entschuldigen zu können. Was kann mehr Sicherheit geben als diese gelehrte Offenlegung der Kniffe! Das war ein Katechismus nicht für Dichter sondern für Verseschmiede, der notwendigerweise Valerys Hang zur Virtuosität schmeicheln mußte, seiner Lust an übersteigerter Reflektiertheit, an der Kunst in der Kunst, dieser Religion des Ausgetüftelten – ebenso wie seinem Willen, in jedem Augenblick außerhalb des eigenen Tuns, außerhalb jedes dichterischen und sonstigen Schwindelgefühls zu stehen. Nur ein Fanatiker der Klarsicht konnte den zynischen Gang zu den Quellen der Dichtung auskosten, der allen Gesetzen der literarischen Hervorbringung widerspricht, den unendlich detaillierten Vorsatz, die unfaßbare Akrobatik, aus welcher Valery den ersten Artikel seines poetischen Glaubensbekenntnisses schöpfte. Er hat aus seiner Unfähigkeit, von Natur Dichter zu sein, eine Theorie gemacht, hat sie als Modell angeboten, er hat sich an eine Technik geklammert, um seine angeborenen Makel zu verbergen, er hat – unsühnba-res Vergehen! – die Poetik über die Poesie gestellt. Man hat das Recht zu denken, daß alle seine Thesen ganz andere gewesen wären, hätte er sich imstande gesehen, ein weniger destilliertes Werk zu schaffen. Er hat aus Ohnmacht die Schwierigkeit gerühmt: alle seine Ansprüche sind diejenigen eines Artisten, nicht eines Dichters. Was bei Poe nur Spiel war, ist bei Valery Dogma, literarisches Dogma, das heißt akzeptierte Fiktion. Als guter »Techniker« hat er versucht, das Verfahren, das Handwerk auf Kosten der Begabung zu rehabilitieren. Aus jeder Theorie – der Kunst, das versteht sich – wollte er die am wenigsten dichterische Konsequenz ziehen, und an sie hat er sich geklammert, da er bis zur Verblendung vom Machen angezogen war, von dem Erfinden, das dem Unausweichlichen, dem Schicksal nichts schuldete. Er hat stets geglaubt, daß man ein anderer sein kann, als man ist, und er hat immer ein anderer sein wollen, als er war. Das bezeugt die nagende Reue, nicht ein Wissenschaftler zu sein, die ihn insbesondere in der Ästhetik zu mancherlei Verstiegenheiten bewogen hat. Es ist auch diese Reue, die ihn bewogen hat, die Literatur von oben herab zu sehen; man könnte meinen, daß er sich erniedrigt, wenn er von ihr spricht, und daß er sich bloß mit Versen abzugeben geruht. In Wahrheit gibt er sich nicht ab, er übt sich, wie er so oft ausdrücklich gesagt hat.

Immerhin hat der Nichtdichter in ihm, der ihn hinderte, Prosa und Dichtung zu mischen wie die Symbolisten, um jeden Preis und aus allem Dichtung zu schlagen, ihn vor der Plage gerettet, die jede allzu gewollt dichterische Prosa ist. Wenn man sich einem so ungebundenen Geist nähert, empfindet man eine seltene Lust, seine Illusionen und Makel zu enthüllen, die zwar nicht augenfällig, aber deswegen nicht minder wirklich sind, denn die absolute Klarsicht ist mit Existenz, mit dem Vermögen frei zu atmen unvereinbar. Und es muß zugegeben werden, daß ein von Täuschungen freier Geist, welches auch sein Grad an Abgelöstheit von der Welt ist, mehr oder weniger an der Grenze des Erstickens lebt.

Poe und Mallarme existierten für Valery; Leonardo ist offenbar nur ein Vorwand, ein Name und nichts sonst, eine gänzlich konstruierte Figur, ein Ungeheuer, mit allen Fähigkeiten ausgestattet, die man selber nicht hat und die man gerne hätte. Er entspricht dem Bedürfnis, sich in einem vollendet zu sehen, den man sich imaginiert und der die ideale Zusammenfassung aller Illusionen darstellt, die man sich über sich selbst gemacht hat: als dem Helden, der unsere eigenen Unmöglichkeiten besiegt, der uns von unseren Schranken befreit hat, indem er sie an unserer Stelle überschreitet. . . UIntroduction a la Methode de Leonard (Die Einführung in die Methode des Leonardo), die das Datum 1894 trägt, beweist, daß Valery von seinen Anfängen an vollendet war, das heißt als Schriftsteller völlig reif: die Mühe besser zu werden, Fortschritte zu machen, war ihm von vornherein erspart. Sein Fall läßt an seinen Landsmann denken, der in Sankt Helena behaupten konnte: »Der Krieg ist eine eigenartige Kunst: ich versichere es Ihnen, ich habe sechzig Schlachten geliefert und, nunwohl, ich habe nichts gelernt, was ich nicht schon bei der ersten gewußt hätte.« Der späte Valery hätte behaupten können, daß auch er seit dem ersten Versuch alles wußte, und daß er, was den Anspruch gegenüber sich und seinem Werk anbetraf, nicht weiter war als mit zwanzig. In einem Alter, in dem man tastet, in dem man jeden nachäfft, hatte er seine Manier, seinen Stil, die Form seines Denkens gefunden. Gewiß, er bewunderte noch, aber als Meister. Wie alle perfekten Geister war er beschränkt, das heißt auf bestimmte Themen begrenzt, von denen er nicht loskommen konnte. Vielleicht war er, aus Reaktion gegen sich selbst, gegen seine deutlich erkennbaren Grenzen in so hohem Maße beunruhigt vom Phänomen, das ein universaler Geist darstellt, von der schier unfaßbaren Möglichkeit einer Fülle von Begabungen, die sich entfalten, ohne einander zu schaden, die beisammen wohnen, ohne einander zu vernichten. Er konnte nicht umhin, Leonardo zu begegnen. Dabei wäre ein Interesse an Leibniz viel angebrachter gewesen. Zweifellos. Doch um sich an Leibniz zu machen, bedurfte er, abgesehen von einer wissenschaftlichen Kompetenz und von bestimmten Kenntnissen, die er nicht besaß, einer unpersönlichen Neugier, zu der er unfähig war. Bei der Beschäftigung mit Leonardo, Symbol einer Zivilisation, eines Universums oder von irgend sonst etwas, fielen die Willkür und die Ungeniertheit sehr viel leichter. Wenn er ihn gelegentlich zitierte, so nur um desto mehr von sich selber reden zu können, dem eigenen Geschmack, den eigenen Abneigungen, um mit den Philosophen abzurechnen durch Anrufung eines einzigen Namens, der für Fähigkeiten stand, die keiner von ihnen je vereint hat. Für Valery sind die Probleme, die die Philosophie aufgreift, und die Art, in der sie sie formuliert, nichts als »Mißbräuche der Sprache«, falsche Fragestellungen, steril und auswechselbar, ohne jede zwingende Formulierung oder zwingenden Gedanken; ihm schien, daß eine Idee entstellt wurde, sobald die Philosophen sich ihrer bemächtigten, mehr noch: daß das Denken selber durch ihre Berührung verkam. Der Abscheu, den er vor dem philosophischen Jargon empfand, ist so überzeugend, so ansteckend, daß man ihn für immer gleichfalls empfindet, daß man einen ernsten Philosophen nicht mehr anders als mit Mißtrauen oder Ekel lesen kann und fortan jeden scheinbar geheimnisvollen oder gelehrten Ausdruck ablehnt. Der größte Teil der Philosophie enthüllt sich uns als Anschlag auf die Sprache, als Verbrechen gegen das Wort. Jede akademische Terminologie sollte in Bann gelegt, einem Vergehen gleichgestellt werden. Unredlich ohne es zu wissen, ist jedweder, der, um mit einer Schwierigkeit fertigzuwerden oder ein Problem zu lösen, ein klangvolles anmaßendes Wort, überhaupt ein Wort prägt. In einem Brief an F. Brunot schrieb Valery: ». . . Es gehört mehr Geist dazu, auf ein Wort zu verzichten als es einzuführen.« Wenn man das Geschwafel der Philosophen in normale Sprache übersetzte – was bliebe übrig? Für die meisten von ihnen wäre dieses Unternehmen verheerend. Man muß aber sogleich hinzufügen, daß ein solches Unterfangen fast das gleiche bei einem Schriftsteller ausrichten würde, ganz besonders bei Valery: Wenn man seine Prosa ihres Glanzes entkleidete, wenn man diesen oder jenen ihrer Gedanken auf sein Skelett zurückführte, was bliebe an ihr von Wert? Auch er war von der Sprache genarrt, freilich einer andern, wirklicheren, in höherem Maß seienden Sprache. Er heckte keine Wörter aus, das versteht sich, aber er lebte beinahe absolut in seiner eigenen Sprache. Daher war seine Überlegenheit über die Philosophen nur dem Umstand zu danken, daß er an weniger Unwirklichkeit teilhatte als sie. Indem er sie so streng kritisierte, zeigte er, daß auch er, der sonst so Besonnene, aufbrausen und sich täuschen konnte. Übrigens hätte völlige Freiheit von Täuschungen in ihm nicht nur den »Menschen des Denkens« getötet, wie er sich selbst zuweilen nannte, sondern – schwererer Verlust! – den Gaukler, den Komödianten der Vokabel. Die »unerschütterliche Klarsicht«, von der er träumte, hat er zum Glück nicht erreicht – sonst hätte sein »Schweigen« bis zu seinem Tode gedauert.

Bedenkt man es recht, so hatte seine Abneigung gegen die Philosophen etwas Unreines; tatsächlich war er von ihnen besessen, er vermochte es nicht, ihnen gegenüber gleichgültig zu sein, er verfolgte sie mit einer Ironie, die der Häme benachbart war. Sein Leben lang hat er sich gegen die Vermutung gewehrt, er wolle ein System schaffen; es hindert nicht, daß er, ganz wie der Wissenschaft, mehr oder weniger bewußt dem System nachtrauerte, das er nicht zu schaffen vermochte. Der Haß auf Philosophie ist stets verdächtig: man könnte sagen, es ist, als verziehe man sich selber nicht, kein Philosoph gewesen zu sein und ginge, um dieses Bedauern oder diese Unfähigkeit zu bemänteln, mit jenen ins Gericht, die, unbedenklicher oder begabter, das Glück hatten, jenes kleine, unwahrscheinliche Universum zu schaffen, das eine gut gefügte Philosophie ist. Man versteht, daß ein »Denker« dem Philosophen nachtrauert, der er hätte sein können, man versteht weniger, daß ein solches Bedauern die Dichter noch stärker quält: man denkt abermals an Mallarme, denn das Buch konnte nur das Werk eines Philosophen sein. Prestige der Strenge, des anmutlosen Denkens! Wenn die Dichter es so stark empfinden, so deshalb, weil sie sich schämen, als Schmarotzer des Unwahrscheinlichen zu leben.
Die Philosophie der Professoren ist eines; die Metaphysik ist etwas anderes. Ihr gegenüber hätte man von Valery eine gewisse Nachsicht erwartet. Nichts davon. Er prangert sie hinterhältig an und ist nicht weit entfernt, sie ganz wie die logischen Positivisten, denen er in mancher Hinsicht sehr nahe steht, als »Krankheit der Sprache« zu diagnostizieren. Es ist ihm sogar Ehrensache, die metaphysische Angst lächerlich zu machen.

Pascals Qualen entlocken ihm Ingenieursüberlegungen: »Für Leonardo gibt es keine Offenbarungen. Kein Abgrund tut sich zu seiner Rechten auf. Ein Abgrund ließe ihn an eine Brücke denken. Ein Abgrund könnte Experimenten mit einem großen mechanischen Vogel dienen.« – Liest man so unverzeihlich kesse Sätze, so hat man nur einen Gedanken im Kopf: Pascal unverzüglich zu rächen. Welchen Sinn hat es ihm vorzuwerfen, daß er die Wissenschaften aufgab, wenn dieses Aufgeben das Resultat war eines spirituellen Erwachens von viel größerer Bedeutung als jene wissenschaftlichen Entdeckungen, die er vielleicht noch gemacht hätte. Pascals Ratlosigkeiten am Rande des Gebets wiegen im Absoluten schwerer als jedwelches der Außenwelt entrissene Geheimnis. Jede objektive Eroberung setzt eine Regression voraus. Wenn der Mensch das Ziel erreicht hat, das er setzte: sich die Schöpfung untenan zu machen – so wird er völlig leer sein: Gott und Gespenst. Dem Szientismus, diesem großen Trugbild der Neuzeit, pflichtet Vale-ry ohne Vorbehalt, ohne Hintergedanken bei. Ist es nur Zufall, daß er in seiner Jugend in Montpellier eben jenes Zimmer bezog, in dem einst Auguste Comte gehaust hatte, der Theoretiker und Prophet des Szientismus?

Der am wenigsten originelle Aberglaube ist derjenige der Wissenschaft. Man kann sich zweifellos der wissenschaftlichen Tätigkeit hingeben, aber die Begeisterung für sie, wenn man nicht selber dazugehört, hat mindestens etwas Peinliches. Valery hat selber seine Legende des Dichter-Mathematikers geschaffen. Und jeder ist darauf hereingefallen, obgleich er anderwärts zugegeben hat, nur ein »unglücklicher Liebender der schönsten aller Wissenschaften zu sein«. Er hatte in einem Gespräch mit Frederic Le-fevre geäußert, daß er einst als Jüngling nicht in die Marine eintreten konnte wegen seines »absoluten Unverständnisses der mathematischen Wissenschaften. Ich begriff davon überhaupt nichts. Für mich war das etwas Fremderes, Undurchdringlicheres, Trostloseres als alles andere auf der Welt. Niemand hat jemals weniger von der Existenz und fast von der Möglichkeit der Mathematik – auch der einfachsten – begriffen als ich zu jener Zeit«. Daß er später daran Geschmack fand, ist nicht zu leugnen; aber Geschmack finden und Bescheid wissen ist zweierlei. Er beschäftigte sich damit, entweder um sich den Rang eines Intellektuellen besonderer Art zu sichern, im Wunsch sich als Held eines Dramas an den Grenzen des Geistes zu profilieren, oder um in einen Bereich einzutreten, wo man nicht mehr ständig über sich selber stolpert. »Es gibt keine Worte, um die Süße des Gefühls auszudrücken, daß eine ganze Welt existiert, von der das Ich vollständig abwesend ist.« Kannte er die Bemerkung der Sophie Kowalewsky über die Mathematik?

Vielleicht trieb ihn ein ähnliches Bedürfnis zu einem Fach, das von jeder Form des Narzißmus so weit entfernt ist. Zieht man aber in Zweifel, daß in ihm diese tiefe Notwendigkeit bestand, dann erinnert sein Verhältnis zur Wissenschaft an die Schwärmerei der Damen im Zeitalter der Aufklärung, von denen er im Vorwort zu Montes-quieus Lettres persanes (Persische Briefe) schreibt, daß sie Laboratorien besuchten, sich für Anatomie oder Astronomie begeisterten. Man muß immerhin rühmen, daß man in seiner Art, über Wissenschaft zu sprechen, den Ton eines Weltmannes der »grande epoque« wiederfindet, ein letztes Echo der Salons von dazumal. Man könnte auch in seiner Jagd nach dem Unzugänglichen einen Hauch von Masochismus spüren: selbstquälerische Vergötterung dessen, was man nie erreichen wird, Selbstbestrafung dafür, daß man im Bereich des Wissens nur ein Dilettant ist.

Die einzigen Probleme, mit denen er sich als Kenner, als Eingeweihter gemessen hat, sind die der Form oder, (noch) genauer, des Schreibens. »Genie des Satzbaus«, dieser Ausspruch Claudels über Mallarme paßt gleichfalls und vielleicht noch besser auf Valery, der selber eingesteht, daß er Mallarme die Bereitschaft verdanke, »mehr als alle Werke das bewußte Beherrschen der Funktion der Sprache zu achten und das Gefühl einer höheren Ausdrucksfreiheit, der gegenüber jeder Gedanke nur ein Zwischenfall, ein vereinzeltes Ereignis ist.« – Valerys Kult der Strenge geht nicht über die Suche nach dem richtigen Wort, über das bewußte Streben nach einem abstrakten Glanz des Satzes hinaus. Strenge der Form, nicht des Stoffes. La jeune Parque (Die Junge Parze) hat mehr als hundert Unreinfassungen erfordert; der Autor ist stolz darauf und sieht darin das Symbol eines strengen Vorgehens. Nichts der Improvisation und der Eingebung überlassen, (in seinen Augen verruchte Synonyme), die Worte überwachen, wägen, niemals vergessen, daß die Sprache die einzige Wirklichkeit ist – das ist der Ausdruckswille, der, so weit getrieben, dazu führt, daß er sich in Nichtigkeiten verbeißt, in die erschöpfende Suche der infinitesimalen Genauigkeit. Valery ist ein Galeerensklave der Nuance.
Er ist bis an die äußerste Grenze der Sprache gegangen, bis an jenen Punkt, wo dieses luftige, gefährdete, zarte Gebilde so fein gesponnen ist, daß es die letzte Vorstufe des Irrealen wird. Man kann sich keine Sprache vorstellen, die reiner, auf wunderbarere Weise so blutleer wäre wie die seinige. Daß er mehr als einmal geschraubt oder geradezu preziös ist, warum soll man es leugnen? Er selber achtet die Preziosität hoch, wie dieses bezeichnende Geständnis bestätigt: »Wer weiß, ob Moliere uns nicht seinerzeit einen Shakespeare gekostet hat, als er die Preziösen der Lächerlichkeit preisgab?« – Man könnte der Preziosität vorwerfen, daß sie den Schriftsteller zu bewußt macht, zu sehr von seiner Überlegenheit über sein Instrument durchdrungen: indem er es so virtuos spielt und handhabt, raubt er der Sprache alles Geheimnis und alle Kraft. Denn die Sprache muß Widerstand leisten: gibt sie nach, fügt sie sich völlig den Launen eines Taschenkünstlers, so löst sie sich in eine Reihe von Funden und Pirouetten auf, wobei sie in jedem Augenblick über sich selbst triumphiert und bis zur Vernichtung gegen sich selbst antritt. Die Preziosität ist der Stil des Stils: ein Stil, der sich verzweifacht und zum Gegenstand seiner eigenen Suche wird. Freilich wäre es ungerecht, Valery für einen Preziösen zu halten; doch trifft zu, daß er Anfälle von Preziosität hatte. Das war ganz natürlich bei einem, der nichts hinter der Sprache wahrnahm, kein Substrat, keinen Rest von Wirklichkeit. Nur die Wörter schützen uns vor dem Nichts, das scheint der letzte Grund seines Denkens, obgleich Grund ein Ausdruck ist, den er in seinem ästhetischen wie metaphysischen Sinn ablehnte. Wahr bleibt: er hat lediglich auf die Worte gesetzt und allein dadurch bewiesen, daß er noch an etwas glaubte. Hätte er sich am Ende auch noch von ihnen gelöst, dann erst dürfte man ihn einen Nihilisten nennen. Das aber konnte er ohnehin nicht sein, denn er empfand zu stark, wie dringlich die Lüge war, um existieren zu können. »Man würde den Mut verlieren, wenn man nicht durch falsche Ideen abgesichert wäre.« Das hat Fontenelle gesagt, der Schriftsteller, dem Valery durch den Reiz, den er auch der geringsten Idee zu leihen verstand, am ehesten gleicht. Die Dichtung ist bedroht, wenn die Dichter der Sprache ein allzu lebhaftes theoretisches Interesse entgegenbringen und sie zum Thema ständigen Tüf-telns machen, wenn sie ihr einen außerordentlichen Rang zuweisen, der weniger der Ästhetik als der Theologie zugehört. Die Sprachbesessenheit, die in Frankreich stets ziemlich intensiv ist, war niemals so heftig, so sterilisierend wie heute: man ist dort nicht fern davon, das Mittel, den Zwischenträger des Gedankens, zum einzigen Gegenstand des Denkens zu machen, oder gar zum Ersatz des Absoluten, um nicht zu sagen: Gottes. Wenn das Wort sich brutal an Stelle der Idee setzt, wenn das Gefährt mehr zählt als die von ihm geführte Fracht, wenn das Werkzeug des Denkens mit dem Denken gleichgesetzt wird, gibt es kein lebendiges fruchtbares Denken, das die Wirklichkeit erfaßt. Um eigentlich zu denken ist notwendig, daß der Gedanke am Geist haftet; wenn er von ihm unabhängig wird, wenn er ihm äußerlich ist, dann ist der Geist von Beginn an behindert, dreht sich im Leerlauf und hat nur noch einen Rekurs: sich selber, statt daß er sich an die Welt heftet, um aus ihr seine Substanz oder seine Vorwände zu schöpfen. Der Schriftsteller hüte sich, allzusehr über die Sprache nachzudenken, er vermeide um jeden Preis, aus ihr den Stoff seiner Zwangsvorstellungen zu machen; er vergesse nicht, daß bedeutende Werke trotz der Sprache geschaffen worden sind. Ein Dante war von dem besessen, was er zu sagen hatte, nicht vom Sagen. Man ist versucht zu behaupten, daß die französische Literatur seit langem durch das Wort behext und tyrannisiert zu werden scheint. Daher ihre Feinheit, ihre Gebrechlichkeit, ihre äußerste Zartheit und auch ihr Manierismus. Mallarme und Valery vollenden eine Tradition und künden eine Erschöpfung an; der eine wie der andere zeigen das Ende einer von Grammatik befallenen Nation. Ein Linguist hat sogar behauptet, daß Mallarme mit dem Französischen wie mit einer toten Sprache umging, die »er nie sprechen gehört hätte«. Hier darf hinzugefügt werden, daß bei ihm eine Spur von Pose vorhanden war, des »ironischen und gewieften Parisers« wie Claudel es bemerkt hat, ein Hauch von »Scharlatanerie« auf höchster Ebene, die Müdigkeit eines, der alles bis zum Überdruß erfahren hat – Züge die wir noch ausgeprägter bei dem Valery der »unbegrenzten Weigerung, irgend etwas Bestimmtes zu sein« wiederfinden. – Das ist das Schlüsselwort seines geistigen Vorgehens, der leitende Grundsatz, die Regel und der Wahlspruch seines Geistes. Und in der Tat ist Valery niemals ganz, er identifiziert sich mit niemandem und nichts, er ist daneben, am Rand von allem, und nicht aus irgendeinem Unbehagen metaphysischen Ursprungs, sondern aus einem Übermaß an Nachdenken über das Vorgehen und über das Funktionieren des Bewußtseins. Die beherrschende Idee, die Idee, die allen seinen Versuchen einen Sinn gibt, kreist um die Distanz des Bewußtseins gegenüber sich selber, um dieses Bewußtsein des Bewußtseins, wie es sich vor allem in seinem »philosophischen« Meisterwerk Note et Digressions (Notiz und Exkurse) von 1919 abzeichnet. Dort sucht er inmitten unserer Empfindungen und unserer Urteile eine Invariante; er findet sie nicht in unserer wechselnden Persönlichkeit, sondern im reinen Ich: »universales Pronomen«, »Benennung von diesem da, das keinen Bezug auf ein Gesicht hat«, »das keinen Namen hat«, »das keine Geschichte hat«, kurzum, das nur ein Phänomen der Überreizung des Bewußtseins ist, nur eine Grenzform des Seins, beinahe (iktiv, bar jeden bestimmten Inhalts und ohne irgendwelche Beziehung zum psychologischen Subjekt. Dieses unfruchtbare Ich, Summe der Ablehnungen, Quintessenz der Nichtigkeit, bewußtes Nichts (nicht: Bewußtsein des Nichts, sondern Nichts, das sieh kennt und das die Zufälligkeiten und Wechselfälle des kontingenten Subjekts abwirft), – dieses Ich, letzte Etappe der Klarsicht, abgeklärte Luzidität, die von jeder Komplizenschaft mit den Dingen oder Ereignissen gesäubert ist, bestimmt sich als absolutes Gegenteil des Selbst als unendliche Schöpfungskraft, kosmogonische Macht, so wie es die deutsche Romantik verstanden hatte. Das Bewußtsein greift in unser Tun nur ein, um dessen Ausführung zu stören, das Bewußtsein ist eine unaufhörliche Infragestellung des Lebens, es ist vielleicht der Verderb des Lebens. Offenkundig gibt es im Phänomen des Bewußtseins eine unheilvolle dramatische Dimension, die Valery nicht entgangen ist, (man denke an die »mörderische Klarsicht« in UAme et la Danse [Die Seele und der Tanz]) doch konnte er nicht zu sehr darauf bestehen, ohne in Widerspruch zu seinen gewohnten Theorien über die im Gegensatz zum zweifelhaften Charakter der Trance wohltätige Wirkung des Bewußtseins im literarischen Schaffensprozeß zu geraten: was ist seine ganze Poetik, wenn nicht die Apotheose des Bewußtseins? Hätte er zu lange bei der Spannung zwischen dem Vitalen und dem Bewußten verweilt, so wäre er gezwungen worden die Wertskala umzukehren, die er aufgestellt hatte, und der er während seiner ganzen Laufbahn treu geblieben ist. Valery hat die Mühe, sich selber zu definieren, auf die eigenen geistigen Tätigkeiten zu starren, für die wahre Erkenntnis gehalten. Sich erkennen heißt jedoch nicht erkennen oder ist vielmehr nur eine Abwandlung des Erkennens. Valery hat stets Erkenntnis mit Klarsicht verwechselt. Außerdem begleitet ein kaum verhehlter Stolz seinen Willen klar zu sehen, unmenschlich illusionsfrei zu sein: er erkennt sich und bewundert sich darob, daß er sich erkennt. Seien wir gerecht: er bewundert nicht seinen Geist, er bewundert sich als Geist. Sein Narzißmus ist von dem, was er »Pathos« des Intellekts genannt hat, nicht zu trennen, nicht ein Narzißmus der intimen Aufzeichnungen, nicht die Anhänglichkeit an das Ich als eine einzigartige Abweichung, es ist auch nicht das Ich jener, die gern mit der eigenen Befindlichkeit beschäftigt sind; nein, es ist ein abstraktes Ich, genauer: das Ich eines abstrakten Einzelnen, fern von den Bequemlichkeiten, den Introspektionen oder den Unreinheiten der Psychoanalyse. Es sei festgehalten, daß ihn der Makel des Narzißmus nicht wesenhaft konstituiert: wie könnte man sonst erklären, daß der einzige Bereich, in welchem die Nachwelt ihm eklatant recht gegeben hat, jener der politischen Betrachtungen und Voraussagen war? Der Geschichte, diesem Idol, an dessen Zertrümmerung er gearbeitet hatte – ihr dankt er vor allem, daß er dauert, daß er noch anwesend, noch zeitgemäß ist. Denn es sind seine auf sie bezogene Äußerungen, die am häufigsten zitiert werden kraft einer Ironie, an der er vielleicht Geschmack gefunden hätte. Man zweifelt an seinen Dichtwerken, man lehnt seine Poetik ab, aber man beruft sich mehr und mehr auf den Moralisten, den aufmerksamsten Analytiker der Ereignisse. Dieser Liebhaber seiner selbst hatte das Zeug zu einem Extrovertierten. Man spürt, daß ihm der Schein, die Äußerlichkeiten nicht mißfielen, daß alles bei ihm des Krankhaften, des Tiefen, des im höchsten Maß Intimen ermangelte, daß selbst das Nichts, das er von Mallarme übernommen hatte, nur eine schwindelfreie Faszination war und durchaus nicht eine Öffnung auf das Entsetzen oder die Ekstase. In einer Upanischade lesen wir: »Das Wesen des Menschen ist das Wort, das Wesen des Wortes ist der Hymnus.« Valery hätte der ersten dieser Behauptungen zugestimmt, die zweite verneint. Den Schlüssel zu seinem Gelingen, zu seinen Grenzen finden wir in dieser Zustimmung, dieser Verneinung.

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