Christliche Demokratie?

Gibt es eine Christliche Demokratie?

Die Türme der Kirche von heute hat der progressive Klerus nicht mit dem Kreuz, dafür aber mit der Wetterfahne geziert.
Nicolás Gómez Dávila

Deterrimum regimen democratiae.
St. Robert Bellarmin[1]

Nach so viel Kritik der drei Revolutionen, deren Auftakt die Französische Revolution, diese eigentlich sehr späte große Wiederbelebung der Demokratie in der Moderne gewesen ist, wird sich der Leser fragen, ob es denn außer der so schwierigen demokratisch-liberalen Synthese nicht auch ein christlich-demokratisches Amalgam geben könnte, ein Bündnis von Mitra und Jakobiner-Mütze. Gibt es also eine „christliche Demokratie“?

Gibt es eine „christliche Demokratie“? Der Gedanke, daß es eine solche geben könnte oder sollte, tauchte schon vor 150 Jahren auf, und da meinte der Schweizer Alexandre Vinet, daß in einer solchen Kombination das Hauptwort unweigerlich das Eigenschaftswort auffressen würde.[2] Im Allgemeinen glaubte man damals noch an die Zauberformel vom Thron-und-Altar-Komplex, aber seitdem hat sich die Zahl jener guten Leute unheimlich vermehrt, die überzeugt sind, ein guter Christ müßte auch ein guter Demokrat sein. Also sollten wir der so überaus „mitmenschlichen“ demokratischen Französischen Revolution, der „organisierten Demokratie“ Mussolinis, der „deutschen Demokratie“ des „Erzdemokraten“ Hitler, der „erneuerten Demokratie“ Lenins und der „Volksdemokratie“ Pankows noch das überraschende Phänomen einer „Christlichen Demokratie“ beigesellen, mit anderen Worten, der Guillotine die dazu wirklich nicht hineinpassende Botschaft des Gottessohnes auf Golgatha?

Der brave Bürger protestiert natürlich gegen eine solche Verbrüderung, doch gibt auch er durch ein schweigendes Nicken zu, daß er von allen diesen bösen Versionen seines Ideals schließlich und endlich trotz ihrer „Auswüchse“ die Französische Revolution bejahen muß. Jawohl, muß. (Daß diese eine Periode unaufhörlicher Reformen unterbrach, hat er nie gewußt.) Doch die Evolution vom Thron-und-Altar-Komplex zum Wahllokal- und Altar-Komplex ist ein bedenkliches Zeichen einer kirchlichen und theologischen Verwirrung. Diese erinnert uns lebhaft an die Worte des Heiligen Paul, an eine Warnung, die sich durch das ganze Neue Testament wie ein roter Faden zieht: „Gleicht euch nicht dem Aion an!“, wobei unter Aion „Welt“ und „Zeit“ verstanden wird. Hier droht zweifellos eine große Gefahr. Früher war es die Kirche, die als „Mutter und Lehrerin“ die Völker führte, beeinflußte, formte und erzog, heute aber sind es „weltoffene“ Theologen und Hierarchen, die der politischen Haute Couture getreulich folgen und jede Modetorheit mitmachen. Nun ist es theoretisch möglich, daß eine Kirche, die ja doch nur „Gottes Kraft in menschlicher Schwäche“ ist, derartig verkommt, daß sie in Demut von der Welt lernen sollte. Das 10. Jahrhundert war eine derartige Zeit.[3] Aber unser Jahrhundert? Das Jahrhundert von Auschwitz, Lienz, Dresden, Kambodscha, Katyn, der mordwinischen Lager? Leider aber besitzen unsere Kirchen heute eine erkleckliche Anzahl von Theologen, die schleunigst vor die Tür gesetzt gehören, wahrhaftige trojanische Esel der theologischen Demi-Monde.

Es gibt keinen modischen Unsinn, den sie nicht mitmachen. Und von dem, was heute „modern“ ist, kann man mit Sicherheit nur eine Voraussage machen: es wird morgen veraltet sein und das Schicksal des Cul-de-Paris erleiden. Der Thron-und-Altar-Komplex war kirchlich unerfreulich und negativ – wie die wilde Ehe zwischen jungen Leuten. Eine solche ist aber schließlich noch „natürlich“ und nicht wider die Natur.

Die Monarchie ist immerhin ein Familismus, die Demokratie ein Numeralismus. Die liberale Demokratie besteht darauf, daß jedermann das Recht habe, jeden Kandidaten jeder Partei zu wählen, d. h. ihm ein Partikel der Macht zu geben. Die Kirche bestreitet das radikal, denn sie unterscheidet zwischen Wahrheit und Lüge, Recht und Unrecht, Gut und Böse, Rechtgläubigkeit und Irrtum – und somit hört auch die theoretisch so wünschenswerte Äquidistanz der Kirche zu den Parteien auf. Die liberale Demokratie behauptet, daß die Mehrheit das Recht habe, jedes Gesetz zu erlassen (und zu diesem Behuf auch die gefügigen Verfasssungsrichter zu ernennen). Die christliche Lehre verurteilt das energisch. Das britische Parlament hatte beschlossen, die Ungeborenen als Unpersonen zu erklären, und das britische Parlament „kann alles tun, außer einen Mann in eine Frau oder eine Frau in einen Mann zu verwandeln“, wie eine berühmte, aber vielleicht biomedizinisch schon veraltete Formel besagt. Und unsere Volksvertretungen sind dieser entsetzlichen Auffassung der „Mutter aller Parlamente“ brav gefolgt.[4] Diese Vergötzung der „mehrheitlichen Menschheit“ muß der Christ mit tiefstem Abscheu ablehnen.

Was ist aber nun die Demokratie? Die Demokratie gibt eine Antwort auf die Frage: „Wer soll regieren?“ Die Antwort darauf ist: ,.Die Mehrheit der politisch gleichgestellten Bürger entweder in Person oder durch ihre im Mehrheirsverfahren gewählten Vertreter.“ Hingegen beantwortet der echte Liberalismus nicht die Frage nach dem Ursprung der politischen Gewalt, sondern nach ihrer Handhabung, also nicht wer, sondern wie regiert werden soll. „Wer auch immer regiert“, sagt der Liberalismus, „es muß so regiert werden, daß der einzelne Bürger die dem Allgemeinwohl nicht abträgliche größtmöglichste Freiheit genießt.“ Generell aber wird im Westen heute unter Demokratie die liberale Demokratie verstanden, wodurch schon eine nicht gelinde Verwirrung entsteht, denn auch eine absolute Monarchie oder eine Diktatur kann liberal (aber nicht demokratisch) und eine Demokratie sehr wohl illiberal sein. Ludwig XIV. war bedeutend liberaler als der Amerikanische Kongreß, der durch die Prohibition die Diät der Bürger kontrollierte. (Auch ein Einkommensteuerbekenntnis oder eine allgemeine Wehrpflicht wäre unter dem Roi Soleil undenkbar gewesen.)
Doch der psychologische Urtrieb zur Demokratie, die durch den Justizmord an Sokrates (der die Demokratie lächerlich gemacht hatte[5]) in Verruf geraten war und in der Französischen Revolution Urstände feierte, ist neben dem Neid die Fiktion der Herrschaftslosigkeit.[6]) Wer kennt nicht den naiv-enthusiastischen Aufschrei: „Wir werden nicht regiert. Wir regieren uns selbst!“? Nun aber ist die Herrschaft durch die Erbsünde in die Welt gekommen, durch die Unvollkommenheit des Menschen mit seiner geschwächten Natur, was wiederum die Existenz des Staates bedingt. Der Mensch ist nur mehr Stückwerk: sterblich, erziehungsbedürftig, vergeßlich, von bösen Leidenschaften verzehrt, gierig, aggressiv, und so weiter. Ohne Sterblichkeit, wie uns Ortega y Gasset lehrte, gäbe es aber kein Automobil, und daher nicht einmal Verkehrspolizisten – doch vielleicht, setzen wir hinzu – Sportwägen zur Belustigung. (Frontalzusammenstöße? Wenn man unsterblich ist, kann einem dabei nichts passieren, und Reparaturen finden nicht im „Schweiß der Nasenlöcher“ statt, wie es in der Bibel wörtlich heißt.) Doch mit dem Sündenfall kommt die Herrschaft (zuerst auf Eva bezogen) und mit ihr die Anarchie- und Demokratiesehnsucht als auch andere Bestrebungen, die die Flüche Jahwehs ungeschehen machen wollen: Freikörperkultur, Empfängnisverhütung,[7] Geburtsanästhesie, Feminismus, Technologie. Man lese nur einmal sorgfältig Genesis 3, 16 – 19 wieder einmal durch.

Mit dem Sündenfall kommt aber nicht nur die Herrschaft, sondern auch die radikale menschliche Ungleichheit in die Welt, die aber der typische Demokratist ungeschehen machen möchte. Der Mensch ist somit in seinen Augen auch nicht mehr ein einmaliges und unersetzliches, völlig unaustauschbares und nicht wiederholbares Wesen, also eine algebraische, sondern eine arithmetische Einheit. Er kann also in den großen Wahlschlachten addiert oder subtrahiert werden. 1 plus 1 plus 1 sind drei, aber a plus b plus c bleiben eben nur a plus b plus c. „Die Demokratie“, sagte der große Schweizer Gonzague de Reynold, „hat als Gesetz die Zahl, die Ziffer. Jede Regierung, die durch das Gesetz der Zahl bestimmt wird, ist ein tellurisches, seiner eigenen Schicksalhaftigkeit unterworfenes Phänomen.“[8]

Darum kann im Zahlenrausch der Demokratie auch jedes beliebige andere Regime entstehen. Die Demokratie baut eben nicht auf die Person (aus Leib und Seele), sondern auf das „Individuum“ auf, das heißt auf die letzte unteilbare Einheit.[9] So wird der Mensch Sandkorn im Sandhaufen. Geburt, Geschlecht, Wissen, Erfahrung, Charakter zählen alle nicht mehr. Jedermann kann zu jeder Funktion eingesetzt werden. Alles andere ist eine „undemokratische Diskriminierung“. Das aber ist völlig mit der biblischen Tradition unvereinbar. Man lese da einmal Jesus Sirach (Ecclesiasticus) 38, 24 – 34. Dort wird das hohe Lied des einfachen Mannes gesungen, der den Grundstock von Staat und Gesellschaft bildet. Es werden hier die einzelnen Berufsarten poetisch geschildert, doch dann wird ebenso bestimmt gesagt, daß alle diese guten Leute als Richter und Gesetzeslehrer in der Versammlung nicht in Betracht kämen und schön hinten sitzen bleiben sollen. Weise Sprüche seien nicht ihre Sache.

Es war die Tragik der neueren Geschichte, daß der Pessimismus der Reformatoren in Bezug auf die menschliche Natur durch den sträflichen Optimismus eines „Philosophen“ verdrängt wurde. Jean Calvin aus Genf wurde durch Jean-Jacques Rousseau aus derselben Stadt verdrängt. Und mit Rousseau kam nicht nur die Vergötzung des Einzelnen, sondern ganzer Gruppen, ganzer Völker, Klassen, Rassen, Stände, eine riesige Welle von Massen-Messianismen, die mit dem Ende des 18. Jahrhunderts ansetzt und bis zum heutigen Tag nicht zum Stillstand gekommen ist. Harmlos war noch die Bauern-Romantik, gefährlicher aber die Vergottung des „nordischen Menschen“ oder der „Proletarier“.
Doch da, wie Berdjajew betont, die liberale Demokratie wertneutral ist und jeder Überzeugung eine Chance gegen muß,[10] die Macht durch Ziffern zu erringen, kommt es in den Demokratien immer wieder zu völlig legalen Machtübernahmen durch tyrannische Demagogen.

Mit anderen Worten: in der liberalen Demokratie ist der Selbstmord liebevoll in das System eingebaut. Dreimal seit 1945 ging Frankreich, Wiege der neuen Demokratie, haarscharf an einer Militärdiktatur vorbei und 1978 hätte ein Stimmungsumschwung von nur 2 Prozent genügt, um einer Volksfront zum Triumph zu verhelfen.

Mit der Ablehnung von Werturteilen befinden wir uns aber nicht nur auf dem Boden der Theologie, sondern auch auf dem der Philosophie. Die der Theologie verwandte Philosophie ist jedoch nicht „gläubig“, sondern den Naturwissenschaften, der Mathematik und der Logik eng benachbart. Nun aber haben zwei führende amerikanische Geschichtsphilosophen, Crane Brinton von Harvard (1952) und Ralph Henry Gabriel (1940) uns unabhängig von einander gesagt, daß kein einziger der Lehrsätze der Demokratie eine wissenschaftliche Grundlage besitzt und daher die Zukunft der Demokratie nur die sein kann, daß sie eine Religion wird, also ein weltlicher aber blinder Glaube werden muß.[11] Ein solcher hat aber den Haken, daß er mit irdischen Versprechen operieren muß, die nur zu oft nicht eingelöst werden können. Dennoch ist die Demokratie vermengt mit der Fortschrittsillusion zu einer Art Diesseitsreligion antichristlichen Charakters für Viele geworden. Zweifellos aber sind wir realiter durch Alter, Geschlecht, Klasse, Gesundheit, Aussehen, Psyche, Intelligenz, Stand, Erziehung und Erfahrung radikal verschieden und keine ernstzunehmende Wissenschaft kann uns das Gegenteil beweisen. (Über den rasanten Unsinn einer ‚Gleichheit vor Gott’ haben wir schon früher gesprochen:[12] denn dann wäre Judas Iskarioth vor Gott „gleich“ Johannes dem Täufer und daraufhin müßte das Christentum Ladenschluß machen.) Auch von der Mehrheitsherrschaft weiß die Bibel nichts Positives zu berichten.[13]

Wie man sieht, ist die Synthese des Christentums mit der Demokratie eine tour de force, denn der Christ denkt vom Kreuz her, der Demokrat von der notre chère mère la guillotine, der Christ beherzigt die Worte des Gottessohnes, der Apostel und Kirchenväter, der Demokrat die von Rousseau, Marat, den Redakteuren der Frankfurter Rundschau und dem Alliierten Kontrollrat seligen Gedenkens. Lurher und Calvin hätten die Volkssouveränität geradezu leidenschaftlich abgelehnt und die katholische Kirche hat zwar zur Zeit der Spätscholastiker mit ihr kokettiert,[14] aber von Thomas von Aquin bis Pius X. ist die Linie der Ablehnung nur zu deutlich. Leo XIII. bekräftigte die Designationslehre, derzufolge durch ein Wahlverfahren die Obrigkeit bezeichnet werden kann, doch kommt ihr die Autorität direkt von Gott zu und nicht im Umweg über das Volk, wie es die Delegationstheorie haben möchte.

Als dann der katholische Demokratist Marc Sangnier in Frankreich die Delegationstheorie wieder aufs Tapet brachte, bekam er ein geharnischtes Veto von Pius X. in seinem Sillon-Brief vom 31. August 1910, in der die Delegationstheorie als „rousseauistisch“ bezeichnet wurde.[15] Als Pius XII. in seiner Weihnachtsallokution 1944 die Demokratie sehr ernstlich behandelte, gab es Freudenschreie im demokratischen Lager. Also endlich ließ sich Rom herbei, die Demokratie als Idealstaatsform zu akzeprieren! Doch hatte der Papst bekräftigt, daß die Parlamente aus einer Elite bestehen müßten und in Periodica (XXXIV, 1-?)[16] ermahnte sein Gewährsmann P. G. Gundlach SJ, daß es sich in dieser Ansprache keinesfalls um eine „Kanonisierung“ der Demokratie handle.

Und zu guterletzt sei hier auch vermerkt, daß Leo XIII. in seiner Enzyklika Graves de communi die Benützung des Terminus „christliche Demokratie“ für alle politischen Zwecke ausdrücklich verbot.[17] Es wäre sehr spaßig, einmal nicht nur die deutschen, sondern auch die italienischen Christdemokraten zu befragen, wie viele unter ihnen von dieser päpstlichen Erklärung gehört haben … zwar nicht gerade die Mehrheit, aber doch einer unter hundert. Man verstehe uns aber recht: da wir in einem Zeitalter leben, in dem jeder reden, manche schreiben, aber die wenigsten lesen können, wollen wir hier deutlich sagen, daß die Demokratie als solche von der katholischen Kirche nicht mit einem Bann belegt worden ist, wohl aber die eigenartige christlichdemokratische Synthese.

Wir wissen sehr wohl, was das Christentum ist und auch was eine (liberale oder totalitäre) Demokratie ist, aber bis zum heutigen Tag hat uns noch niemand (am allerwenigsten ein christlich-demokratischer Abgeordneter) erklären können, was eine „christliche Demokratie“ darstellen soll, denn weder die Gleichheit, noch die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit sind christliche Postulate. Sicherlich befürwortete die Vox Populi in Jerusalem die Kreuzigung des Herrn und dieses abwechselnde Hosanna und Crucifige erleben wir auch bei unseren Wahlen, in denen stets die größten Bemühungen gemacht werden, die Treue (eine feudale Tugend!) der Wähler ins Wanken zu bringen und die Gegner mit allen Mitteln zu verteufeln. Es gibt kaum ein Laster, das mit dem modernen Parlamentarismus nicht verbunden wäre: Eitelkeit, Eifersucht, Treulosigkeit, üble Nachrede, Lüge, Ehrabschneidung, Schadenfreude, Verheimlichung, Wortbruch, Bestechung, Hochmut, Heuchelei, Hinterhältigkeit, Motivverdächtigung.

Daher auch der völlige Mangel an Respekt, dem man dem „Hohen Haus“ allenthalben entgegenbringt. Man kann da nur naiv hoffen, daß die Vertreter christlicher Parteien in dieser Beziehung besser dastehen, als ihre weltanschaulichen Gegner. Daß die totalitäre Tyrannis brauner, rosa oder tiefroter Couleur noch viel ärger ist, kann man als Trost empfinden, macht aber die Sache nicht besser. (Bedenklich für die Erhaltung der Freiheit in dieser Welt ist allerdings die größere Zielstrebigkeit, Entschlossenheit, Kontinuität und Schlagkraft der roten Monokratien sowohl mit ihren politischen als auch mit ihren militärischen Kampftruppen!) Wie dem auch immer sei: wenn man sich alle Definitionen der „christlichen Demokratie“ anhört, kommt man zum Schluß, daß sie nichts anderes ist, als die fromme Hoffnung, daß das liebe Volk eine christlich-demokratische Regierung nach der anderen wählt.

Man muß allerdings zugestehen, daß die Christen von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in vielen Ländern keine andere Wahl hatten, als in die Niederungen der politischen Arena herabzusteigen, um ihre Prinzipien zu verteidigen (oder ihnen im Glücksfall zum Sieg zu verhelfen). Das ist für eine Kirche eine unglückselige Situation, denn ob sie es nun will oder nicht, wird sie mit der christlichen Partei identifiziert. Doch christliche Parteien kommen und gehen, die Kirche aber bleibt und wird für die Fehlleistungen der „christlich-demokratischen“ Parteien verantwortlich gemacht. Was aber kann der christliche Wähler tun? Zumeist nichts anderes als lustlos, nur um größeres Übel zu verhindern, diese Parteien wählen, die meist sehr lautstark ein Bekenntnis zur Demokratie ablegen. Dazu rät ihm (indirekt) die Kirche und zwingt in der Regel sein Gewissen. (Welcher Christ kann auch schon eine Fötalmordpartei wählen?) Das große Bekenntnis zur Demokratie ist aber nötig, denn der Verdacht bleibt stets wach, daß die christlichen Parteien die Wertfreiheit der liberalen Demokratie, die eben auch sehr gerne den Charakter einer sektiererischen, relativistischen Fortschrittsreligion annimmt, nicht teilen. (Das Possierliche daran ist der Umstand, daß dieser Verdacht besonders gerne gerade von ideologisch umrissenen marxistischen Parteien geäußert wird!)

In vielen Ländern wurde es das gar nicht unbedingt erfreuliche Schicksal christlich-demokratischer Parteien zum Bollwerk des „bürgerlichen“ Lagers zu werden. Die Verblödung innerhalb des politischen Rotwelschs unserer Tage hat dazu geführt, daß sozialistische Parteien, die einmal unter der Flagge des Aufrufs „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ segelten, (der auch heute noch die Kopfleisten sowjetischer Zeitungen ziert) nicht als „bürgerlich“ bezeichnet werden. Ich habe mir immer in der UdSSR den Höllenspaß geleistet, die äußerst wenigen Kommunisten als „Proletarier“ anzusprechen, was sie wenig amüsierte, da sie dagegen schwerlich protestieren konnten. Etwas Bürgerlicheres, beziehungsweise Spießbürgerlicheres als einen auf eine mammuthafte Bürokratie eingeschworenen Sozialisten, kann man sich doch kaum vorstellen, und unsere Sozialistenführer im Westen, die in schönen Villen wohnen, in teuren Autos herumfahren und oft Jahreseinkommen in Millionen von Schilling ihr eigen nennen, als .,Proletarier“ oder als Repräsentanten einfacher „Werktätiger“ zu betrachten geht eigentlich doch ein bißchen weit!

Sie einem „bürgerlichen“ Lager gegenüberzustellen ist völlig lächerlich – und noch lächerlicher (und auch subtil infamer) ist es, christlich sein wollende Parteien als Herzstück des „bürgerlichen Lagers“ zu betrachten. (Andererseits sind auch Generaldirektoren „werktätig“ und Arbeiter im Rentenalter sind es nicht mehr). Diese Gleichsetzungen von christlich und bürgerlich, arbeitend und sozialistisch, sind unwahr und wie alle Unwahrheiten höchst gefährlich. Es ist doch schwer zu sehen wie der „Heilige Wahn des Kreuzes“ bürgerlich sein könnte, genau so wie es idiotisch ist, den davidischen Königssproß Jesus zu einen proletarischen Revoluzzer „umzufunktionieren“. Das „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“, „Die Armen werden immer unter euch sein“ und viele andere „elitäre“ und „kapitalistische“ Aussagen müßte man dann aus dem Neuen Testament streichen.[18]

Die Problematik der sogenannten christlichen Demokratie im parlamentarischen Rahmen besteht bei uns darin, daß sie sich trotz ihrer Profillosigkeit in einem harten ideologischen Kampf befindet. Diesen versteht man jenseits des Ärmelkanals und des Atlantiks in keiner Weise. Die angloamerikanische Szene mit ihrer weltanschaulichen Blässe und Konformität ist auf uns nicht übertragbar. Sie hat sich glücklicherweise mit dem Problem einer „christlichen Demokratie“ und dem Dilemma der christlichen Parteien, wie wir es am europäischen Festland haben, nie auseinandersetzen müssen. Seien wir aber aufrichtig: wir haben es auch nicht wirklich getan. Sicherlich scheuen wir uns davor und dies aus mancherlei Gründen.

Am allerwenigsten aber tun dies die Bischöfe und „Theologen“ in Lateinamerika, wo so manche Nachfolger der Apostel, von der sogenannten „Befreiungstheologie“ angekränkelt, christlich-demokratischen Parteien anhängen oder auch bitterlich nachweinen. Man erinnere sich da nur an Eduardo Frei, der fast die Rolle eines „chilenischen Kerenskij“ spielte und in seiner deutlich linken Verblendung Salvador Allende, den Kandidaten der marxistischen Parteien, mit seiner entscheidenden Stimme im Parlament in den Sattel hob. Alles, was dann in Chile geschah, geht eindeutig auf das Konto Freis, der allerdings gestanden hatte, daß seine christlich-demokratische Partei das „C“ nur als Ornament benütze. Der Großteil des Episkopats setzt sich jedoch energisch für die Demokratie ein, da die Exzellenzen hoffen, die Christdemokraten würden in freien Wahlen hervorragend abschneiden. Welche Garantien haben sie jedoch dafür? Natürlich keine irgendwie gearteten.

Doch vielleicht hoffen die guten Hierarchen in ihrer grenzenlosen Naivität, daß die siegreiche Linke ihren Stand gegen das Militärregime honorieren wird. Die Marxisten wissen ja, daß Friedrich Engels in der demokratischen Republik den idealen Rahmen für die Diktatur des Proletariats gesehen hatte. Doch diese Rechung der chilenischen Kirchenfürsten dürfte kaum aufgehen und schon gar nicht nach der geplanten Rückkehr zum Parlamentarismus. (Man denke da nur an Kardinal Mindszenty, der sich mannhaft gegen die braune und dann gegen die rote Tyrannis gewehrt hatte!) In der Demagogie sind die Marxisten Chiles den braven Christdemokraten turmhoch überlegen und in Wirtschaftsangelegenheiten herrscht bei letzteren das im Orbis Catholicus so weitverbreitete illusionsreiche Nichtwissen. Die Kinder der Finsternis sind nun einmal klüger als die Kinder des Lichts.[19]

Erik Maria Ritter von Kuehnelt-Leddihn

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Fußnoten:

  1. Die demokratische Herrschaftsform ist die schlechteste.
  2. Siehe AlexandreVinet: Études sur la littératur française du XIX siècle. Bride, Lausanne, k.D., Bd. 1. S. 437
  3. Viel mehr so als das fünfzehnte. Im 10. Jahrhundert wurde zeitweise das kirchliche Rom von der verkommenen Frau Marozia beherrscht.
  4. Der Pionier des vorgeburtlichen Kindermordes war – wie zu erwarten – Schweden. England kopierte dann Schweden … alles zu einer Zeit, da die künstliche (als auch die natürliche) Empfängnisverhütung „Allgemeingut“ geworden war. Doch die Mordgier läßt sich schwer zügeln.
  5. Diese operierte in Athen nicht nur mit der Nasenzählerei, sondern auch mit dem Los. Sokrates zitierte Homer und Hesiod gegen diesen Wahn. Doch im Gymnasium bekamen wir davon nichts zu hören.
  6. Das erste Opfer des Beherrschtwerdens ist Eva: „Nach dem Mann wird dein Verlangen sein und er wird über dich herrschen.“ Das ist auch psychologisch sehr fein formuliert.
  7. Die häufige Schwangerschaft ist Teil des Jahwe-Fluches: „Ich werde deine Schmerzen und Schwangerschaften vermehren.“ (Genesis, 3, 16). Es gibt Exegeten, die das ue mit „von“ und nicht mit „und“ übersetzen wollen, aber die Septuaginta besteht auf das „und“ (kai). Das ist in der theologischen Auseinandersetzung über die Empfängnisverhütung von Bedeutung.
  8. Siehe: Gonzague de Reynold: Conscience de la Suisse. Braconnière: Neuenburg 1938, S. 92
  9. Da das Individuum keine echten „personalen“ Eigenschaften hat, wird es auch als Schimpfwort benützt. Die „Person“ ist alles oder nichts. Darum kann sie im Französischen auch „Niemand“ bedeuten.
  10. Siehe: Nikolaus Berdjajew: Das Neue Mittelalter. Übers. A. Kresling. Reichl, Darmstadt, 1927, S. 106.
  11. Siehe: Crane Brinton: Idea and Men. The Story of Western Thoughts. Prentice Hall, New York 1950, S. 549 und: Ralph H. Gabriel:The Course of American Democratie Thought. Ronald Press: New York 1940, p. 411.
  12. Der Dominikaner R. L. Bruckberger in seinem „Le capitalisme, mais cest la vie!“ (Plon, Paris 1938, S. 130) sagte sehr richtig, daß das Evangelium für die Ungleichheit einsteht. Als ich der Religionsredakreurin einer führenden deutschen christlichen Wochenschrift mit zwingenden Argumenten bewies, daß wir vor Gott nicht gleich wären, brach sie schließlich in Tränen aus und gestand schluchzend: „Wenn Sie wirklich recht hätten, dann würde ich aus der Kirche austreten!“ Zwischen der unfehlbaren Religion der Demokratie und der archaischen Tradition des (katholischen) Christentums wählend, wußte sie, welche Entscheidung sie zu treffen hätte.
  13. Siehe die Warnung in Exodus 23, 2 sich nicht der Mehrheit anzuschließen, um Unrecht zu tun. Doch muß man sich darüber in Klaren sein, daß man in der „vordemokratischen“ Zeit überhaupt nicht „zahlenmäßig“ dachte. Vor allem: Zahlen (Mehrheiten) geben keine Legitimität.
  14. Francisco Suárez SJ kam der Volkssouveränität und der Delegationstheorie sehr nahe. Darüber siehe mein „Freiheit oder Gleicheit“ (O. Müller: Salzburg, 1953, S. 262). Die Designationslehre Leos XIII. machte diese Spekulation zunichte. Hinter der Delegationslehre stand zweifellos die Absicht einiger Theologen, die Legitimität der englischen Monarchie in Frage zu stellen.
  15. Diesen Sillon-Brief vom 31. August 1910 findet man in Acta Apostolicae Sedis. Bd. 2. Rom 1911. Der Text ist ausnahmsweise französisch.
  16. Periodica (XXXIV, 1-2). Dies wohl eine damalige Zeitschrift. MM
  17. Den Text dieser Enzyklika findet man in Acta Sanctae Sedis Bd. 33, Rom 1900 – 1901. Es versteht sich fast von selbst, daß eine solche Enzyklika, wie auch der Sillon Brief aus politischer délicatesse nicht in Denzingers Enchiridion Eingang fanden.
  18. Rein „kapitalistisch“ ist die Parabel von den Talenten. Der Knecht, der sein Talent begraben hatte, wird beschimpft und bestraft, weil er sie nicht bei den Bankiers (tois trapezitais) angelegt hatte. (Matthäus 25, 27). Diese Bankiers waren wahrscheinlich syrische Nichtisraeliten.
  19. Sehr richtig sagt Ronald Daus in seinem Zorniges Lateinamerika (Diederichs. Düsseldorf, 1973, S. 196) es sei „eine nordamerikanische Naivität zu glauben, daß man mit ‚Demokratie’ diesen Kontinent verändern könnte. Und das wissen die Lateinamerikaner auch. Mehr Demokratie würde nichts ändern.“ Doch auch bei uns gibt es massenhaft solche Tröpfe.

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